BITTERES LICHT
“Zauberin, Zauberin, verzaubere mich, damit ich ewig jung bleibe!”
Ihr Gesicht beugt sich über mich, der Heiligenschein um ihren Kopf strahlt
Wärme aus. Lange Wimpern, glatte Haut mit feinen, fast unsichtbaren Poren,
als sei sie künstlich. Die winzigen Härchen sind nicht zu sehen, doch ich
weiß, von ihnen kommt das seltsame Licht, das ihr Gesicht erfüllt.
“Zauberin, wachse nicht, damit ich ewig schön bleibe!”
Ich möchte es ihr versprechen, den Zauberspruch sagen, doch nur unverständliche
Töne kommen aus meinem Mund. Das ist vielleicht der Zauberspruch, denn sie
lächelt zufrieden, und ihre großen, weißen Zähne hinter den vollen,
sinnlichen Lippen glänzen wie Porzellan.
“Du versprichst es mir, nicht wahr?”, ruft sie und packt mich an den
Armen.
“Ich verspreche es!”, will ich ihr zurufen, doch aus meinem Mund kommt
wieder nur ein Schwall verstörter Töne.
Das ist meine erste Erinnerung.
Zärtlich hält mich meine Mutter über der Windel. Ein weißes Kleidchen aus
Seide hüllt meinen Körper ein; auch sie ist ganz in Weiß - langes Kleid,
das die Linien ihrer schlanken Figur betont; zarte Arme, geschaffen, noch
Leichteres als die Blumen zu tragen: vielleicht die Luft oder das Nichts -
so zarte und leichte Arme, leichter als Daunen, zärtlicher als ein Kuss.
Der schwarz-weiße Ton des Bildes kann den Glanz ihrer goldenen Haare nicht
verbergen; ihr Profil ist zart, doch nicht liebevoll; ihre Augen sind
wonnevoll zusammengekniffen, so dass nur ein kleiner Schlitz offen bleibt,
durch den sie mich verfolgen kann. Das Beste hier sind wieder ihre Hände,
sie halten mich, als sei ich aus launischem Porzellan geschaffen, das unter
dem Anklopfen des Fingernagels klirrt und jeden Augenblick durch den Atem
des unvorsichtigen Besitzers zu zerbrechen droht.
Das, wofür das Lichtbild nicht zeugt, ist ihre Stimme, die mich immer wieder
um Wiederholung des Zauberspruchs bittet. “Zauberin, Zauberin”, fordert sie,
“denke daran, dass du mir ewige Jugend versprochen hast...”
Die Blende verschluckt unsere Gesichter. Bereits hinter dem Bild lässt mich
meine Mutter ins Gras rutschen, dreht sich im Kreis, und ihr Kleid öffnet
sich wie ein großer, weißer Schirm. Ich versuche, mich aufzurichten, aber
meine Muskeln treiben wieder ihren Spaß mit mir: sie versprechen mir einen
Schritt und belügen mich im nächsten Augenblick. Ich falle ins Sitzen und
beleidigt lasse ich meine Tränen fließen... meine Mutter dreht sich...
hinter dem Auge des Fotoapparats lächelt ein hochgewachsener Mann und
läuft, den weißen Löwenzahn zu fangen.
Jetzt wird mein Schrei ganz verzweifelt - beide erstarren in ihrer Umarmung,
beobachten mich einige Sekunden verwundert. Ich sehe aus, als würde ich
mich im nächsten Augenblick im Grase zusammenkrümmen oder von großen, roten
Flammen umfasst und wie das Blatt eines nie gesandten Briefes verbrennen.
Nun nimmt sie mich in die Arme; das Lächeln zerschmilzt in ihrem Gesicht
und es wird nach und nach traurig, verwundert, verbittert.
“Du Eifersüchtige!”, leise sprechen es ihre Lippen aus, “du süße
Eifersüchtige.”
Wenn meine Mutter mich jetzt an sich drückte, würde ich sie mit beiden
Händen am Rock packen, und ziehen, bis ihr Dekolleté zerreißt. Die winzigen
Perlen ihrer Kette würden über ihre Schultern fallen; überhaupt, ich würde
es ihr zeigen, wenn sie in diesem Augenblick den Fehler beginge, mir zu
nahe zu kommen.
Aber sie kennt mich zu genau und hält mich in gebührender Entfernung. Ihre
sanften Arme verwandeln sich in zwei stählerne Klammern. Sie dreht sich zu
meinem Vater um, als würde sie ihn ansehen, aber nur ich fange ihren
verträumten Blick ein, der ihn durchdringt und am Horizont, an den Flügeln
der Vögel und der Schmetterlinge, haftet. Meine Mutter verwandelt sich
plötzlich in eine Silhouette, so, wie sie mir später in der Erinnerung
oft erscheinen wird, wenn ich an die Augenblicke unseres Zusammenlebens
zurückdenke.
Die Blende öffnet für Sekundenbruchteile wieder ihr Auge. Mama - sie träumt,
ist vertieft; neben ihr - ich. In der Torte - eine Kerze. Die Kerze wurde
gerade von Mama ausgeblasen, der unbekannte Fotograf hat sogar den dünnen
Rauchfaden festgehalten, der sich immer noch über dem Docht emporhebt.
Vollkommenes Bild. Mamas Gesicht - umgeben von dem Heiligenschein; oder -
wer weiß - vielleicht von der Aureole der Sünde. Das dünne Wölkchen von
Photonen umgibt sie überall, sogar der Arm leuchtet, mit dem sie mich
leicht auf ihren Knien stützt. Die Haut schimmert golden, ihr Kopf erinnert
mich an das Antlitz des Mondes. Mama hat alle Farben des Flusses durchgelassen
und sich ins Licht eingetaucht, sogar ihre Augen strahlen so viel Braun aus,
dass sie fast bernsteinfarben sind und nachts wie die Augen eines geheimnisvollen
Raubtieres glänzen.
Diese Augen jagten mich in der Dunkelheit, wie zwei Flammen richteten sie sich
auf mich, um mich zu wärmen oder zu verbrennen. Ich schrie, entsetzt von dem
Nahen der unsichtbaren Bedrohung; dann geschah etwas mit der Finsternis und
im Zimmer stand plötzlich sie - schmetterlinghaft, zärtlich, ein bisschen
verlegen durch die Konkurrenz der Lampe. Ich konnte mir niemals erklären,
wie sich die beiden Flammen in meine Mama verwandelten, es ist bis heute das
größte Rätsel meines Lebens. Damals dachte ich, Mama verstecke sich in der
elektrischen Birne, so wie sich das Licht in diesem leuchtenden Kügelchen
verbirgt; eher würde sie mit dem Lichtstrom geboren, der das Zimmer mit
Helligkeit überflutet und die Farben aus den Gegenständen zieht.
“Zauberin, Zauberin”, flüstert die von der Lampe Geborene. “Mach', dass
meine Jugend ewig währt, dass du immer klein bleibst, und ich so schön,
wie mich die Augen deines Vaters sehen, die Augen aller Männer, die jemals
eine Frau geliebt haben, die Augen der Ungeborenen, denen die Liebe noch
bevorsteht. Bleib immer so, wie du jetzt bist! Versprichst du mir das?”
“Ja, Mama! Diese Trunkenheit deines Blutes soll weiter währen, diese Tobsucht
der Hormone in deinem vollkommenen Körper.”
Ich verspreche schweigend, weil ich sehe, wie hinter ihrer rechten Schulter
die allgegenwärtige Zeit hervorschaut. Sie wird ihre Haare mit weißer Wolle
füllen, ihren Körper mit schwerem Blei stopfen, die Geschmeidigkeit ihrer
Wirbelsäule stehlen, den Knorpel - durch Metall und Späne ersetzen. Mama
wird schlapp werden, streitsüchtig und unglücklich, ihre Gelenke werden
anschwellen, das Fleisch wird hilflos zu hängen beginnen. Ihr Blut wird
sich mit dem Saft bitterer Mandeln füllen, weiß wie Milch werden, und der
rote Ruf der Liebe wird von ihm verschwinden, die Farbe der Sterne in
ihren Augen - abbröckeln und Mama wird sterben - in jenem Augenblick, bevor
sie gewöhnlich wird.
“Ach, Zauberin, Zauberin!” Sie nimmt mich in die Arme und trägt mich durchs
Zimmer. “Dein Zauberspruch hilft mir nicht, du bist wieder einen ganzen Tag
gewachsen, und hast wieder einen Tag meiner Jugend gestohlen”.
Hier schnappt die Blende wieder zu. Mama lässt mich bereits auf dem Boden
stehen und hält mit ihren beiden Händen meine. Sie bringt mir das Laufen
bei. Jetzt, wenn sie gebückt ist, sehe ich ziemlich groß aus, doch eigentlich
messe ich nur sechzig Zentimeter.
Ich bin drei Jahre alt und fange gerade an, mit schwankenden, unsicheren
Schritten zu laufen - das letzte Kind meines Alters, das mit dem Laufen
beginnt. Ich kann schon zwei Wörter: Mama und Zirkus; ich spreche sie klar
und deutlich aus, sogar der Buchstabe “r” stellt kein Hindernis dar. Auf
alle anderen Fragen schweige ich, die Welt interessiert mich überhaupt
noch nicht.
Sie stützt mich vorsichtig; auf den ersten Blick sieht es so aus, als beobachte
sie jeden meiner Schritte, aber ihre Augen, vertieft und nachdenklich, folgen
bestimmt den Schritten eines anderen Kindes in ihrem Inneren. Sie sieht, es
wächst vor ihren Augen auf: ein, zwei, drei Jahre drehen sich rasch im Kalender,
und die Zeit bleibt stehen. Hier endet der Traum aller Mütter: ein kleines
Kind und die frühe Jugend, das glücklichste Alter einer Frau. Seitdem wachse
ich nicht mehr, in ihrem Traum bleiben wir beide als das ewige Kind neben der
ewigen Mutter: eine am Anfang des Kalenderjahres gefrorene Zeit, in der wir
uns wie Gespenster bewegen, leise über unsere Einfälle kichern, alt wie die
Welt Spiele spielen - Mama und ich, Mama und ich, immer Mama, und immer
ich.
Doch die Blende beginnt wieder zu sehen und wir sind bereits in der Zeit
meiner schrecklichen Eifersucht. Ich benutze meine neue Errungenschaft -
das Laufen - um meine Mutter und den fremden Mann, den sie meinen Vater
nennt, auf jedem Schritt zu verfolgen. Was ist das - Vater? Ein Mittel,
mir Mama wegzunehmen. Ihre Küsse, ihre Arme, ihre Liebkosungen.
Ich belauere sie aufgeregt, nachts schlafe ich nicht und morgens finden
sie mich oft halb bewusstlos vor ihrer Tür.
Meine Mutter ist unruhig und wacht in der Nacht öfter auf, deshalb benutze
ich manche List: ich warte, bis ich ihren gleichmäßigen Atem, gemischt mit
dem Zischen meines Vaters, aus dem Zimmer höre. Jetzt halten sie die Tür
ständig offen; ich kann mich ungehindert ins Zimmer hineinschleichen und
auf dem Vorleger vor ihrem Bett einschlafen.
Zu jener Zeit sieht Mama müde aus, ich habe vier Jahre vollendet und
wachse nicht mehr. Der Zauberspruch, mit dem ich mich selbst verzaubert
hatte, drückt mich mit schwerer Hand nieder, wie der Stein die Blume
niederdrückt und ihr nicht erlaubt, dass sie ihren Kopf zur rettenden
Sonne hinaus reckt.
“Meine süße Elfe”, flüstert Mama in mein Ohr, doch ich sehe mich selber
eher als ein kleines Trollchen - ein sympathisches, ungeschicktes Trollchen,
das seinen wertvollen Schatz unter der Erde hütet: eine Frau ganz aus Licht,
eine Königin, die von den Ameisen, auf nur ihnen bekannten winzigen
Zauberpfaden, weggebracht worden ist - in die Tiefe, in das Reich der
kleinen Goldschmiede, Schleifer edler Steine, Hüter von Perlen und
zahlreichen Schätzen: der wertvollste davon ist Mama.
“Dieses Kind ist wegen dir eifersüchtig auf mich”, flüstert Papa gereizt,
“ich habe das Gefühl, es verfolgt mich.”
Mama schaut ihn müde und mit Verständnis an. Das ist eine der wenigen Aufnahmen,
auf der sie das Objektiv und Papas Verzweiflung bemerkt. Doch hinter ihrer
Müdigkeit lugt auch eine Verwunderung hervor: Wer ist dieser Mann, so scheinen
ihre Augen zu fragen, was tut er hier, vor mir, um mich, wie ist sein Name,
wo wohnt er, mit uns, warum mit uns?
“Dieses Kind ist erschreckend!” stellt Papa in diesem Augenblick fest, als er
auf den Knopf des Fotoapparates drückt. Das Auge öffnet sich und verschluckt
gierig noch einen Moment aus Mamas Leben, einen ihrer langen Momente. Mama
tritt in den Film hinein, doch sie verschwindet nur scheinbar aus dem Zimmer.
Jetzt ist nur noch ihre Hülle da; ihr Phantom aus Luft.
Die Stimme meines Vaters bringt sie wieder zurück.
“Es reicht nicht, dass sie ein Zwerg ist ...”, flüstert er einen Moment später.
Mama schaut ihn an, doch sieht von neuem nur seinen durchsichtigen Körper
durch die durchsichtige Wand. Sie ist jetzt jenseits der Gegenstände, jenseits
der Realität; vielleicht beobachtet Mama in dieser Sekunde den Flug der Vögel
zum Horizont oder sieht schon die Sterne hinter der unsichtbaren Luft. Vielleicht
bleibt ihr Blick auf einem Mondhorn hängen, weil sie abstrakt und verträumt
antwortet, ohne den verzauberten Raum des Himmelskörpers zu verlassen.
“Sie ist kein Zwerg!”, widerspricht Mama überzeugt, “sie ist eine Zauberin. Sie
will ein Kind bleiben, und bleibt. Das ist das Geheimnis des ewigen Lebens.”
“Ihr bringt mich noch um!”, seufzt Papa. “Es gibt kein ewiges Leben. Das Kind
ist krank und benötigt einen Arzt. Kommt endlich auf die Erde zurück!”
“Auf die Erde”, Mama schaut ihn überrascht an und bricht in Gelächter aus. “Was
sollen wir dort tun?”
Im Nebenzimmer beginne auch ich zu lachen.
“Dann besser unter die Erde”, meldet sich meine Trollhoheit, “dort ist es
wenigstens voller Schätze.”
“Quatsch!”, unterbricht uns Papa, “ihr füllt eure Köpfe mit wer-weiß-für-einem
Blödsinn.”
Jeden Abend tragen die Ameisen Mama weg und entführen sie durch ihre geheimen
Gänge unter die Erde. Dort ist sie sicher aufgehoben, gehütet von ihrer
Troll-Tochter, die über ihren Schlaf wacht. Papa ahnt von alledem nichts,
er schläft tief und fest.
Die Ameisen tragen Mama jeden Morgen wieder ins Bett zurück. Papa erwacht und
umschlingt Mama. Aber eigentlich umarmt er mich. Denn bis die Unterirdischen
sie langsam durch ihre unendlichen Tunnel schleppen, krabbele ich auf dem
kürzesten Weg und nehme ihren Platz im Bett ein. Papa umarmt mich, und im
nächsten Augenblick öffnen sich seine überraschten Augen und beobachten
mich verwundert.
Natürlich, ich schlafe.
Er versucht, mich auf die andere Seite des Bettes zu tragen. Ich werde
plötzlich sehr, sehr schwer. Er gibt sein Vorhaben auf und versucht, auf
Mamas Seite zu gehen. Meine Arme legen sich um seinen Hals wie eine eiserne
Falle. Ich schlafe, ich bin schon sehr, sehr schwer; außerdem könnte ich
jeden Moment aufwachen und zu weinen beginnen. Die ersten Untertöne der
Unzufriedenheit werden irgendwo tief in meiner Brust geboren, ich beginne
wütend zu wimmern, und diese Ouvertüre bringt Papa zur Verzweiflung. Er
verharrt in meinen Armen und hofft lange Minuten umsonst auf meinen erneuten
Schlaf, auf die Lockerung meiner Fessel. Meine Arme umschlingen ihn noch
fester.
“Ich hasse dich, Kindchen!”
“Ich hasse dich auch, Papachen!”
Vorsichtig versucht er, meinen Armen zu entkommen. Die winselnden Töne
in meiner Kehle steigern sich zu immer lauterem Protest. Doch am Ende bin
ich gezwungen, aufzugeben. Ich ziehe meine Arme zurück, aber gerade als er
glaubt, mich besiegt zu haben, schlage ich ihn. Ich schlage ihn voller
Wucht mitten ins Gesicht.
Mama erwacht jetzt von seinem Schreien. Auch ich öffne nun die Augen.
Ich schaue ihn unschuldig an. Mein verstörter Blick mindert ein bisschen
seine Wut, immerhin bin ich nur ein Kind, und er - ein erwachsener Mann,
der seine Instinkte unter Kontrolle zu halten hat.
Er muss, aber es fällt ihm zunehmend schwerer. Letztendlich bleibt Mama ein
unantastbares Territorium. Ich habe schon gehört, was für schreckliche Dinge
passieren, wenn die Eltern über Nacht alleine bleiben. Und ich belauere sie,
lauere mit der Kaltblütigkeit eines Raubtieres. Am Tag schlafe ich heimlich
auf Straßen und Bänken aus. Ich habe gelernt, stehend wie ein Pferd zu
schlafen, überall und zu jeder Zeit. So bin in der Lage, nachts zu wachen,
bis sie getrennt voneinander sind und sich ihrem unanständigen Geheimnis
nicht widmen können.
“Ich halte das nicht mehr aus!”, sagt mein Vater, aber ich weiß, er wird noch
eine gewisse Zeit aushalten. Meines Sieges bin ich sicher. Ich setze meine
ganze Energie für dieses tage- und nächtelange Lauern ein. Ich brauche keine
Nahrung für mein Wachstum, keine für den Verstand, keine für die Begabung,
die Eltern unglücklich machen wird. Meine Kräfte setze ich zum Belauschen
meiner Mama ein: sie vor der Zerstörung zu bewahren, vor dem Blick meines
Vaters, der eines Tages gleichgültig und kühl werden, und den Sternenstaub
aus ihren Augen wischen wird.
Mama fliegt mit ihrem weißen Fallschirm vom Himmel. Der Löwenzahn ist böse,
der Wind droht ihn weit, weit entfernt von hier wegzupusten.
Sie zieht mich beiseite und sagt leise, fast flüsternd in mein Gesicht:
“Hör zu, meine Kleine! Wenn du so weitermachst, schicke ich dich in ein
Internat und werde mir ein anderes Kind nehmen.”
“Das wirst du nicht tun” antworte ich ihr mit ruhiger Gehässigkeit.
Ich bin gerade einmal acht Jahre alt und zu intelligent für mein Alter -
eine Kompensation der Natur für die mir genommene Möglichkeit zu
wachsen.
“Warum?” Überraschung schlägt mir aus ihren glänzenden Augen entgegen.
“Warum?”
“Du selber hast gesagt, ich wäre der einzige Beweis deiner Jugend. Das
andere Kind wird wachsen.”
Meine Worte zwingen sie für einige Augenblicke zu verstummen.
“Du kleine Hexe”, sagt sie endlich.
Zum ersten und zum letzten Mal beleidigt mich Mama. Später wird sie nur
zärtliche Worte verwenden, die fürchterlicher als Schimpfworte klingen:
“Ich verabscheue dich, meine Elfe, ach, wie ich dich hasse, meine Süße,
hau endlich ab von hier, meine Perle...”
In diesem Augenblick legt sie den Grundstein zu unserer langen Fehde mit
Zärtlichkeiten, die das Blut im Herzen versiegen lassen.
“Ich hasse dich, Zauberin”, grollt sie, und in ihren Augen blitzt kurz die
böse Flamme der Mittäterschaft auf.
“Ich hasse dich ebenso, Mama”, antworte ich ihr, doch die schöne, wütende
Gottheit verlässt die Erde und begibt sich zu ihrem Stern, von dem sie mich
mit unheimlichem Licht zerschlagen wird.
Bis zu meinem zehnten Lebensjahr, als Papa es nicht mehr aushält und uns
verlässt, um später in einem fremden Land zu sterben, schlafe ich weiter
ungestört zwischen den beiden. Ich gehe noch nicht zur Schule, ich bin so
klein, dass keine Lehrerin riskieren würde, mich in ihre Klasse mit vor
Muskeln strotzenden Giganten aufzunehmen. Ich sehe jetzt aus wie ein vier-
bis fünfjähriges, wohlgeformtes Kleinkind, ich bin kein gewöhnlicher Zwerg,
sondern einfach ein Kind, das sich weiter zu wachsen weigert.
“Was für ein süßes Mädchen!” schmeicheln alle meiner Mutter, doch sie sieht
weder geschmeichelt noch glücklich aus. “Wie alt bist du, Makellose?”
“Zehn”, antworte ich.
Das bringt sie zum Lachen. Doch ist es ein Lachen voller Unbehagen über die
Lüge eines solch wunderschönen Kindes.
“Lassen Sie sie doch”, beschwichtigt meine Mutter rasch. Ihre ständige
Pflicht ist es, die Leute zu betrügen, eine Rolle, die sie mit aufrichtigem
Stolz angenommen hat. “Sie ist eine kleine Schwindlerin. Eigentlich hat sie
noch nicht das fünfte Jahr vollendet.”
“Die kleine Schwindlerin, das Kind der großen Blenderin”, flüstere ich
verschwörerisch in ihr Ohr. Ihr Blick scheint mich töten zu wollen.
Wir steigen aus der Straßenbahn. Mama schweigt lange, bis wir Hand in Hand
gehen. Ich beobachte sie heimlich. Seit dem Tod meines Vaters hat sie
erheblich abgenommen. Noch stärker treten nun ihre schmalen Formen einer
ewigen Jungfrau hervor. Ihre Haut ist durchsichtig wie die Haut einer
Heiligen geworden, die sich nur von Hostien ernährt. Endlich kommt sie
aus dem Nichts heraus, beugt sich über mich, und ich spüre wieder den
alten verschwörerischen Hass in ihrer Stimme:
“Du bist die größere Lügnerin von uns beiden, Zauberin.”
“Wieso?”, frage ich sie spöttisch, obwohl ich die Antwort ahne.
“Weil du zu schlau bist, um langsamer zu wachsen. Mit fünfzig wirst du
wie ein junges Mädchen aussehen, und ich werde dann überhaupt keine
Chance haben.”
Ich blicke schnell unter meinen Wimpern auf sie und sehe für einen
Augenblick: sie ist wirklich einsam, eine verzweifelte Frau, deren
Mann von der in ihrem Bauch ausgetragenen Bestie vertrieben worden
ist.
“Mamachen”, flüstere ich leise und qualvoll, “hast du vor, so lange
zu leben?”
“Warum?” Sie ist von meiner Frage überrascht und heftet ihre schönen
Augen auf mich.
“Weil”, antworte ich ihr langsam in ihrem Tonfall, “ich dann überhaupt
keine Chance habe. Ich muss als Kind sterben, und das ist bestimmt
nicht die beste Wahl.”
“Ich hasse dich, meine Liebe!”, zischt meine Mutter.
“Ich hasse dich auch, Mamachen”, erwidere ich ihr mit zärtlichem
Verständnis.
Hier beginne ich schon, hinter die Blende zu sehen. Mama sieht ein
bisschen überheblich aus, doch sie ist eher ängstlich oder erschrocken.
Mein Auge verfolgt sie gereizt hinter dem Fensterchen: eine Traummutter,
sogar mehr noch als ein Traum - die Schöpferin eines kleinen Trolls.
Wer, außer mir selbst, wüsste mehr über unsere Verzweiflung? Sie will
nicht gebrechlich und alt sterben, ich will nicht vor ihr sterben. Wir
klammern uns an dieses Leben, als ob es gemeinsam wäre. Jede von uns
zieht es zu sich und deckt sich mit ihm zu, bis zum nächsten Moment, in
dem irgendein Teil unserer Körper ungeschützt bleibt. Das ist die größte
Hilflosigkeit - die der Mutter vor dem Kind und die des Kindes vor der
Mutter.
Aus Mama quillt ein bitteres, trauriges Licht. Nein, sie zeigt keine
Gewissensbisse, in ihrer Brust schlägt ein Stern, kein Herz. Ihr ganzes
Unglück besteht darin, dass sie geboren wurde, dass sie selbst entbunden,
und auf diese Weise noch einen Trumpf in die Hände der Zeit gegeben
hat.
Mama verhält sich jetzt unversöhnlich. Unsichtbarer Rost zerfrisst sie in
jener Welt, in die sie geraten ist. Was habe ich hier verloren? Sie schaut
sich überrascht um. Und was ist das für ein Kind bei mir? Ein Kind mit
einem Apparat; ein Kind, das den Blitz in seinen Händen hält, der den
Glanz meines Gesichts mindern wird. Wem gehört das Auge, das mich hinter
dem Objektiv verfolgt - sieht so das Auge der Zeit aus? Und würde ich
mich selbst belügen, was mich erwartet, nachdem mich das Auge mit seiner
toten Pupille anschaut?
“Zauberin, Zauberin”, flüstert Mama die Beschwörung, “denke immer daran,
was du mir versprochen hast: ewige Jugend und die ewige Liebe deines Vaters!
Du raubtest mir das zweite, wirst du mir auch das erste wegnehmen?”
“Hab keine Angst, meine Teure”, antworte ich ihr von der anderen Seite der
kleinen Maschine, durch die das Leben von Mama fließt, “es wird nicht
schlimmer als ein Kuss der Erde sein, und die Erde küsst süß und für
immer.”
Die Blende öffnet sich, und durch das aufgefächerte Vieleck kommt Mama
in den Film. Ihrå Haare werden schwarz mit einemmal, ihr Gesicht verdunkelt
sich wie das Gesicht der Sonne beim Blick durch eine verrußte Scheibe.
Dafür glitzert ihr schwarzes Kleid, die Halskette und das Armband glänzen.
Aus einer hellen Witwe verwandelt sich Mama plötzlich in ein Schneewittchen
aus Ebenholz, aber das ist nur ein Spiel des Negatives. Später projektiert
sich Mama weiß und seltsam in ihrer düsteren Kleidung. Und ihre Augen
schauen wieder nach oben, hinauf ins Nichts, in den Tod.
Was wird Mama dort sehen, wen wird sie sehen? Meinen verzweifelten Vater?
Nur ihre Zukunft? Wird Mama nur die eine Liebe sehen, die letzte für sie,
süß und bitter wie ein Kind, geboren am Ende des Lebens?
Jetzt lächelt Mama, und in ihre Welt dringt der junge, hübsche Willi ein.
Mama streckt ihm ihre Hand entgegen und er schreitet durch das Objektiv,
selbstsicher wie der mit Ambrosia durchtränkte Apollon. Er kommt herein,
und schon verwandelt sich das ganze Zimmer in einen Saal des Lachens mit
einer jungen Frau und einem Mädchen neben ihr, einer Madonna und einem
Engelchen, einer Prinzessin und einem Troll.
Dieses Bild ist unvergesslich, wieder sind wir zusammen, wieder Kopf an Kopf,
und hinter dem Fotoapparat steht schon der schöne Willi. Als habe er uns für
eine Minute versöhnt, als habe er unseren Hass in ein Lachen verwandelt,
unsere Gehässigkeit - in ein Spiel.
“Ich liebe dich, Kindchen!”, flüstert Mama in diesem Augenblick, und ich
antworte ihr fast ehrlich, fast zärtlich:
“Ich liebe dich auch, Mamachen!”
Ich möchte jetzt Willi beschreiben, aber er entkommt mir immer wieder mit
seinem listigen Lächeln, unerreichbar wie ein Hauch. Auf dem Film bleibt
einzig ein blasses Zwielicht von ihm, er selbst ist nur ein fortwährendes,
finsteres Lachen, doch auf dem Film verbleibt das Lachen nicht, noch
weniger die Finsternis.
Als sei die Materie in Willi unorganisiert, als irre sie zerstreut umher,
formlos und einsam in den Konturen seines gesunden, muskulösen Körpers.
Mama betet Willis Körper an. Weder am Tag, noch in der Nacht kann sie genug
von ihm bekommen. Doch die beiden bevorzugen am meisten die Dämmerung, wenn
Willi sich in den herumstehenden Gegenständen auflöst. Es scheint, Mama
würde sich mit dem ganzen Weltall paaren.
Sie lassen mich allein im Haus herumtreiben, sie haben vor mir keine Angst
mehr und bemerken mich nicht, die Magie umfasst sie überall, beherrscht sie,
verstopft ihre Ohren mit Wachs, klebt ihre Lippen mit süßem Nektar zu.
Ich irre in den Zimmern umher und warte auf die Stunde, wenn Willi sehend
wird, und das junge Mädchen, das in mir wächst, das unter dem Kleid und im
Inneren anschwillt - in den Drüsen, in den Organen, im Herzen und im Gehirn,
bemerken wird. Er kann nicht lange blind für dieses Geheimnis bleiben, er
hat kein Recht, lange blind zu bleiben.
Und ich höre schon die verzweifelte Stimme meiner Mutter: Du hast mich betrogen,
Zauberin, Kindchen meiner Einsamkeit, meiner Leiden. Du hast mich betrogen,
Bestie!
“Na und”, erwidere ich, “haben wir zusammen nicht gut gelebt, dass du dich
von der Finsternis hinreißen lassen würdest? Zwischen der Schönen und dem
Biest ist ein Dritter überflüssig. Und die Bestie, wie du siehst, bin
ich!”
Mama betrachtet mich erschrocken, aber sie sieht mich immer noch nicht. Sie
schaut starr in die Pupillen ihres märchenhaften Willi, sie vereinigt sich
jetzt mit dem Weltall, und die Sterne in Willis Augen verführen sie zu einer
gedankenlosen Hingabe.
Dann verlassen wir den Rhythmus - sie, Willi und ich. Ich, Willi und sie.
Sie und er kommen aus der Finsternis heraus, ich tauche hinein.
“Was für ein merkwürdiges Kind du hast”, sagt Willi, “es ist so klein,
scheint aber seit Jahrhunderten auf der Welt zu leben.”
“Weil sie eine Zauberin ist”, antwortet ihm Mama leise. “Sie wird dich auch
verzaubern, schau sie nicht so lange an.”
“Ich muss sie anschauen,” lächelt Willi müde, “mein Blick bleibt an ihr
haften, und nicht nur meiner, sondern auch die Blicke aller anderen. So
ein kleines Kind und so gut geformt, einfach eine feine Messalina.”
“Willi, du machst mir Angst”, sagt Mama zu ihm, “hast du eine Neigung zu
Kindern?”
Er schaut sie durch die Finsternis an, und seine Wolfsaugen blitzen im
Bett auf.
“Sie ist kein Kind, sondern so alt wie die Welt, da sie der Teufel selbst
ist. Und der Teufel zieht immer den Blick an.”
Jetzt bekommt Mama wieder den ängstlichen Ausdruck eines Mädchens, sie
schweigt lange, und so wir stehen alle drei in einem unlösbaren Liebesdreieck:
das Licht, die Finsternis und der Teufel. Mama neben Willi. Und ich.
Am Morgen trillert Willi bis zum Abwinken ein und dasselbe Lied. Die Triller
verlassen seine Kehle und ergießen sich in das Zimmer, halten sich für einen
Augenblick in den Ecken und fliegen danach durch das Fenster hinaus.
Ich liege im Bett und lausche dieser satanischen Musik. Willi trällert wie
eine Nachtigall, er pfeift mit Lust und reibt seine Muskeln aus Finsternis,
seine Schultern aus Finsternis. Aus ihm strahlt eine unversiegbare Lebenskraft,
für die geschlossene Türen kein Widerstand sind, Entfernungen kein
Hindernis.
Mama beobachtet ihn durch das offene Portal, ich habe mich auch auf meinen
Ellbogen gestützt und höre seinem verführerischen Liedchen zu. Ich höre es
und warte die Zeit ab, bis sich Willi von meinen langen Haaren, von meinem
schlanken Körper hinreißen lassen wird, hoffentlich wird es bald sein, o,
hoffentlich! Doch Mamas Blick macht mir Angst, in ihren Augen lauert in
letzter Zeit etwas Rätselhaftes, etwas Unvorhersehbares. Sie spricht den
Zauberspruch nicht mehr aus, weil die Zeit schon seit langem in diesem Haus,
in diesen Zimmern, in dieser Welt stehengeblieben, und selbst Mama offensichtlich
materieller, realer geworden ist.
Immer öfter begegnen sich unsere Blicke und mustern einander prüfend. Aus dem
undurchdringlichen Gesicht der Mama weht Museumskühle. Vollkommen konserviert,
verändert sie sich nicht mit den Jahren, zumindest haben die Veränderungen,
die in ihr stattfinden, keine Wirkung auf ihr Äußeres.
Mit zwanzig bin ich einem Mädchen ähnlich, das gerade ins Übergangsalter kommt.
Ich bin ein bisschen gewachsen und gehe jetzt regelmäßig zur Schule - in eine
Klasse, die meinem körperlichen Alter entspricht. Das sind jetzt nicht mehr
als zwölf Jahre.
Mama ist immer noch so jung, ihre Haut ist immer noch glatt, mit winzigen Poren,
als wäre sie künstlich. Für alle anderen Leute läuft die Zeit schneller, die
Altersgenossen von Mama werden runzelig, aus ihnen fließt der Saft des Lebens
ab. Meine Mitschülerinnen überholen mich schnell, und ich bleibe mit jedem
Jahr weiter zurück.
Das Licht, das aus Mama kommt, ist nicht mehr jenes gespannte Licht, jetzt ist
es eher eine ruhige Ausstrahlung eines seiner Sache sicheren Wesens. Mama
leuchtet jetzt nur für Willi. Oder vielleicht nur für sich.
Trotzdem beginnt sie, Angst vor mir zu haben. Ich merke es an ihren Versuchen,
mich zu meiden, immer wenn wir allein bleiben, als wäre Willi die einzige
Brücke, auf der wir zueinander kommen könnten. Die Vergangenheit ist schon
vergessen, mein verstorbener Papa ist auch vergessen, wir leben jetzt in
einer ständigen Konkurrenz um Willi, der eigentlich mir gehört.
Wir können dem Schicksal, zu dem uns die Verschwörung verurteilt, nicht
entkommen. Mama muss eines Tages gehen, eines Tages muss ich groß werden,
und Willi soll meine pechschwarzen Haare bemerken, meine dunklen Augen,
meinen geschmeidigen Gang - all dies gehört Willi, und Mama ist nicht
imstande, das zu verhindern.
Der Augenblick ihrer Liebe kann endlos verlängert werden, doch irgendwann
wird er enden. Auch wenn inzwischen mehrere Galaxien sterben und kosmische
Stürme Tausende von Planetenherden von der Sternenkarte tilgen - der
Augenblick ist zu einem Ende verurteilt. Auch wenn die Menschheit
verschwindet und dann wieder, wie Phönix aus der Asche, aufersteht - der
Augenblick ist zu einem Ende verurteilt. Auch wenn das Weltall sich
mehrmals zusammenzieht und ausdehnt, seine ganze Materie in Strahlung
verwandelt und sie dann wieder zu neuen Planetensysteme zusammenballt -
der Augenblick ist zu einem Ende verurteilt.
Und Mama versteht das sehr gut, sie erkennt es in Willis Augen. Sie
verfolgen mich gierig, wenn ich mich bücke, um meine Schnürsenkel zu binden,
wenn ich früh am Morgen im Nachthemd durch die Wohnung gehe und das Licht
genieße. Willi schielt mit zunehmendem Erstaunen hinter mir her, er ist
schon ganz von mir durchdrungen, vergiftet von der Magie meiner Augen
und meines Körpers, eingeflochten in die Verschwörung für immer.
Mama, ich habe dir tatsächlich ewige Jugend versprochen, aber nicht ein
ewiges Leben. Das kann dir keine Zauberin geben, gleich wie mächtig sie ist.
Und nicht, weil nur die Veränderung ewig ist, und nicht, weil wir durch sie
versuchen, unsere Vergänglichkeit in der von uns bewohnten Welt, zu erklären,
sondern weil kein von junger Kraft und Bosheit erfülltes Wesen, es dem Wesen,
aus dem es kommt, überlassen kann, sein Schicksal zu bestimmen. Das Nirwana ist
eine Ablehnung der Fortsetzung und kann keine Kraft aus dem schöpfen, was
existiert. Die Mutter kann nicht Kraft aus dem Kind schöpfen und dadurch das
Nirwana erreichen.
Trügerisch ist deine Ruhe, Mama, du bist verurteilt und deshalb wird Willi
eines Tages mir gehören - wenn das Licht stirbt und über der Erde die
Finsternis mit Willis Gesicht, Willis Augen und Körper eintritt. Nacht,
die die Gegenstände, die Wesen, die Sterne verbirgt, und es wird nicht mehr
von Bedeutung sein, ob man sie nicht sieht oder ob sie einfach nicht
existieren. Doch es wird wohl das letztere sein: Mit dem Tod von Mama
wird auch das Licht sterben. Und das ist dem Verschwinden der Materie gleich.
Die Finsternis braucht keine Materie. Willis Muskeln sind ein Irrtum, er
braucht sie nicht oder er braucht sie nur für Mama. Solange Mama existiert,
wird auch Willis Körper existieren. Dann wird meine Macht kommen, und er
wird verschwinden. Er wird aufhören, so zu sein, wie er jetzt ist. Wir werden
zusammen die Welt erobern.
Wieder die Blende und wieder die Mama. Sie trägt ein bescheidenes, graues
Kleid, irgendwie betrübt ist sie, aber immer noch meine Mutter - einundeinhalb
Mutter sogar, Mutter eines Gnomchen, eines Trollchen, einer kleinen Elfin,
eines Dämons, eines Teufels. Sie scheint für die Wahrheit erwacht zu sein,
als hätte sie begriffen, wen sie um ewige Jugend gebeten, wem sie ihre Seele
verkauft hat, die Seele der Welt, des Lichtes. Aber sie ist noch sehr verliebt,
sie schwebt noch im Himmel, Willis raubgierige Augen haben sie noch nicht
erspäht.
Ich und Willi haben uns ein sehr lustiges Spiel ausgedacht. Wir nennen es
“Mama-fangen”. Mama ist der Sonnenfleck auf dem Spiegel, sie ist der auf
Willis Gesicht fallende Lichtschein - er versucht, ihn mit den Zähnen zu
fangen, ihn zu vernaschen. Manchmal spielt auch Mama mit. Sie bewegt den
Spiegel mit der Hand, und ich versuche mit Willi, das helle Balg zu fangen.
Wir springen komisch herum, stoßen uns gegenseitig an, flechten Arme und
Hände ineinander, raufen uns. Plötzlich entscheiden wir uns, die Ohren des
Sonnenflecks anzubeißen, und unsere Lippen treffen sich. Wir schauen uns
einige Augenblicke verlegen an: Kopf an Kopf, Auge an Auge, Nase an Nase.
Willis Lippen sind warm und kaum spürbar, sein Kuss geht an meinen Lippen
wie ein Hauch vorbei.
Ob Mama diesen raschen Kuss gemerkt hatte? Ja, das Sonnenfleckchen ist
zusammengebrochen und weint, Mama ist verwirrt.
“Willi, du machst mir Angst”, sagt sie traurig, “die Zauberin ist noch ein
Kind.”
“Gut, sie ist ein Kind”, Willi ist einverstanden, “aber alt wie die Welt.
Sogar noch älter.”
Ich mische mich ein, um die Dinge beim richtigen Namen zu nennen. Beide
sind sich in diesem Moment kaum im klaren, was für unschuldige Lügner
sie sind.
“Ihr habt es nicht erraten”, sage ich, “ich bin fünfundzwanzig Jahre alt.
Ich bin zwar nicht alt, aber auch kein Kind mehr.”
“Unmöglich!”, widerspricht Willi, “deine Mutter ist fünfundzwanzig. Und
du bist sechs Jahre alt, wenn man nicht die Milliarden zählt, die du
vorher gelebt hast.”
“Sieh mich doch an”, fordere ich, “sieh mich gut an! Sehe ich aus wie
ein Kind?”
Willi betrachtet mich, und plötzlich nimmt er mich wahr: ich bin jung,
die Kindheit ist vorbei, mein Körper ist von süßen Säften erfüllt,
meine Lippen - mit Durst, und mein ganzes Ich ist nur Durst.
Und Mama ist wieder fünfundzwanzig, es soll auch so sein.
Von diesem Augenblick an hört Willi auf, Mama wahrzunehmen. Seine Augen
füllen sich mit mir - mit mir, die schön ist, mit mir, die verführerisch
ist, und die nicht mehr das Kind ihrer Mutter ist.
Von jetzt an wird ihre Agonie beginnen, das Licht wird sich in ihr
einschließen, der Stern wird nach innen zusammenbrechen, Mama wird
hilflos von einem ins andere Zimmer gehen, während Willi und ich uns
ansehen, während wir uns mit Blicken verschlingen, und dann - mit
allem anderen.
Die Aureole um Mamas Kopf verwelkt allmählich - wie eine im Winter erfrorene
Blume. Mama ist krank von mir, und gemeinsam mit ihr ist die ganze Natur
krank, die Trauben vertrocknen zu früh an den Rebstöcken, unberührt von
einer menschlichen Hand, die Äpfel büßen ihre Feuchtigkeit ein und schrumpfen
zusammen, Früchte, Gräser, Tiere, Menschen sterben, ein wahnsinniger Kollaps
zerstört die Städte.
“Zauberin, Zauberin”, stöhnt Mama, “hast du keine Gnade, Zauberin?”
“Nein”, antworte ich, während Willis Hände meinen Körper umarmen und ihn
mit süßer Kraft erfüllen, “keine! Ich habe dir ewige Jugend versprochen,
aber kein ewiges Leben.”
Mama wird wahnsinnig vor Schmerz und Eifersucht. Wie ein Tier im Käfig
stößt Mama an das Leiden, und in den Zimmern macht sich Kälte breit, in
der Natur bricht der Winter ein, und das Licht der Welt erlischt langsam
ohne Mama.
Willi vereinigt sich mit den umliegenden Gegenständen, Willi taucht in sie ein,
oder sie tauchen in ihn ein - es ist egal, was wahr ist, wenn alles zuletzt mit
einer Sintflut endet.
Mama, ich bin der Teufel, der aus deiner Kraft kommt. Ich habe mich verborgen,
bin mit der Entstehung der Welt gewachsen. Ich täuschte dir Verträglichkeit
vor, ich war die Materie, die die Grundlagen dieser Welt erbaute. Alles, was
in ihr entstand, entstand eigentlich von mir, und keiner konnte mich beseitigen,
ohne sich selbst zu beseitigen. Ich kam, und zusammen mit mir kamen die Leute,
und mit ihnen - der Hunger, die Krankheiten, die Armut, die Macht eines schwachen
Menschen über einen anderen schwachen Menschen. Ich kam, weil es nicht möglich
war, dass ich nicht komme: das Existieren der Welt bedeutete auch mein Dasein.
Die Menschen nannten mich Nacht, Schatten, dunkle Kraft, aber sie wussten nicht,
dass das einzige, was sie mit Sicherheit hatten, ich war. Der Kreis wurde
geschlossen, sie waren unglücklich, und das Unglück trug meinen Namen.
Vielleicht übertreibe ich die Größe meiner Macht, doch auch jene lügen, die
sich ausdenken, dass die Welt eine Schöpfung des Teufels ist. Nein, die Welt
ist eine Schöpfung der Dunkelheit, und ihr Grundmaterial ist der Satan. Die
Welt ist Willi, ich bin ihre Basis. Warum Willi? Ich hätte ihn auch anders
nennen können, aber was für eine Bedeutung hat schon ein Name?
Wenn morgen alles in die Gleichgewichtsfinsternis versinkt, warum existiert
Mama? Es muss ein Sinn in ihrer Existenz liegen, aber nichts verrät im Grunde
diesen Sinn. Durch die Blende beginnen Leute und Maschinen zu sehen, Tiere
und Roboter, sie fragen - wozu die Mama? Keiner weiß die Antwort.
Über Papa ist alles klar: irgendjemand entzündet den Funken, doch der
Funke ist etwas Reales, etwas, das wir uns vorstellen können. Willi ist
auch verständlich, er ist so, wie er geboren wurde, er ist von mir
geschaffen, um mit mir Liebe zu machen. Aber wozu die Mama? Das Licht, das
Leben, die Vernunft, wozu? Keiner kennt die Antwort.
In diesem Augenblick öffnet sich die Blende. Hinter dem Fensterchen ist
die ganze Welt erstarrt: die Gräser, die Tiere, die klugen Computer, die
anderen Maschinen. Sie warten, bis Mama durch die Blende geht und für immer
auf dem Film bleibt. Aber das hängt von der Haltbarkeit des Materials ab,
das immer sein kategorisches Nein sagt. Und dann seufzen alle enttäuscht
auf, alle fragen zusammen: Aber wozu existiert Mama? Wenn sie nicht da
wäre, würde auch die Frage nicht existieren.
“Ach, Zauberin, Zauberin,” weint Mama, “du hast mich betrogen, Kindchen,
Bestie meiner Einsamkeit. Du hast mich betrogen. Und es geht nicht nur um
Willi, aber was machst du mit ihm? Es ist nicht selbstverständlich, wenn
sich ein Kind in die Finsternis verliebt, es sei denn, es wäre eine Bestie,
es sei denn, es wäre der Teufel selbst.”
“Ich bin der Teufel, Mamachen”, lache ich zufrieden, “ schau mich doch an,
bin ich nicht der Teufel selbst? Ein Zwerg bin ich, mit den Ameisen bin
ich befreundet, meinen Vater habe ich zum Teufel gejagt, mit Willi vergnüge
ich mich. Wer kann ich sonst sein?”
Aber Mama schüttelt ungläubig den Kopf und seufzt:
“Ist von meinem Körper ein Teufel geboren worden, wie ist das möglich -
von meinem schönen Körper?”
So klein wie ich bin, so lustig wie ich bin, und wenn ich in ein Lachen
ausbreche - dann helfe Gott meiner Mutter, helfe Gott der Welt.
“Ach, Mama, Mamachen”, kichere ich, “was gibt es sonst außer mir auf
dieser Welt?”
Sie sieht mich traurig an, und aus ihrem Herzen fällt ein dunkler Seufzer.
“Ich hasse dich, Kindchen!”, ruft sie, und ich antworte ihr verschwörerisch:
“Ich hasse dich auch, Mamachen.”
Hier wird das Album geschlossen. Weitere Bilder gibt es nicht, und das
bittere Licht hört auf, aus dem schwarzen Passepartout zu strömen.
Mama zieht in eine andere Welt um. In der Wohnung bleiben nur ich und Willi.
Aber das ist schon eine neue Geschichte, die nichts mit Mama zu tun hat.
Es gibt ein kleines Grab, und auf dem steht eine winzige schwarze Elfin, auf
einem Piedestal festgenagelt. Unter dem Grab - das Skelett einer jungen Frau.
Aus ihm strömt ein Licht und erschreckt nachts die Kinder des Totengräbers.
Die kleine Elfin schläft am Tag, doch nachts stellt sie der Welt ein
merkwürdiges Rätsel. Die Frage ist jedem bekannt. Und die Antwort?
Die menschliche Dämonologie schweigt vorläufig darüber.
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