DAS LAND DER BUNTEN SEELEN
Der Mathematiker hatte einen Freund, auf den er besonders stolz war. Sein Freund
konnte wunderschöne grüne Zäune unter hellen orangefarbenen Sonnen malen.
Außerdem malte er frohe kleine Tierchen, die so lebendig aussahen, dass sie
sofort vom Blatt gelaufen sind, nachdem ihr Schöpfer seinen Pinsel von ihnen
genommen hatte, so dass der Maler öfter vor dem leeren Blatt stand, und wenn
seine meisterhaft zeichnende Hand nicht wäre hätten alle gedacht, er könnte
überhaupt nicht malen.
Doch der Mathematiker war tausendmal bei dem Wunder zugegen und wusste,
warum das Blatt am Ende immer leer blieb.
Aber das beste Werk des Malers war eigentlich seine Seele. Sie war bunt wie
ein Maikäfer, glänzend und schön wie ein Maikäfer, außerdem konnte sie wie
ein Maikäfer fliegen. Es war die lustige und ausgelassene Seele eines
jungen Fauns, der sich mit seinen Schwestern – den Elfen – inmitten des
ewiggrünen Waldes des Elfenlandes amüsierte.
Wenn es etwas gab, weswegen der Mathematiker seinen Freund beneidete, waren
es nicht die ausgelassenen, aus dem Blatt herausspringenden Häschen und
Zicklein, sondern es war diese Seele, die jeden Augenblick ihre Farben
wie ein Frühlingsregenbogen wechselte.
Er hat ihn mehrmals gefragt, woher der Maler sie hat, und ob er eine solche
auch kaufen könnte, doch sein Freund schmunzelte nur und antwortete nicht.
Der Mathematiker war aber stur und außerdem hatte er keine andere Wahl. In
letzter Zeit verursachten nämlich die langen Zahlenreihen ein unstillbares
Zittern in ihm, doch war dies nicht ein Zittern der Freude, sondern der
Müdigkeit, der Enttäuschung, des Verzweifelns. Ihm gefiel seine eigene
Lebensweise nicht mehr, auch sein Fach nicht. Am Ende begann er, sich
selbst nicht mehr zu gefallen. Er fand sein Leben grau, seine Seele einfarbig,
und deshalb träumte er davon, einen Teil der Weltbuntheit in sie
hineinzufügen.
Aber seine Seele kannte nichts anderes außer genauen Berechnungen. Sie versuchte
selbst Freundschaften zu berechnen: Wie viel sollte sie geben, wie viel nehmen
und wie viel sollte es ihr in Reserve bleiben?
So wurde der Mathematiker mit der Zeit immer verzweifelter wegen des Unwillens
seines Freundes, ihm zu helfen und das Geheimnis der bunten Seelen zu
enthüllen.
Es vergingen viele Jahre, während derer er jedes Mal nur ein Lachen als
Antwort auf seine Fragen bekommen hatte. Doch in letzter Zeit wurde das
Gesicht des Malers immer nachdenklicher, während der Mathematiker ihn
zum tausendsten Mal ausfragte. Und eines Tages hörte er auf zu lächeln.
Seitdem ging er dazu über, die Fragen seines Freundes mit Schweigen
zu beantworten.
„Gut“, sagte er dann noch einige Zeit später, „ich werde dir mein Geheimnis
verraten. Einmal habe ich ein Bild gemalt. Es war so gut, dass niemand den
Blick von ihm wenden wollte. Auch ich konnte nicht davon weg schauen. So
gut waren seine Farben, so wunderbar zusammengestellt, so harmonisch
ineinander fließend.
Das Bild drückte nichts aus, da es nur eine Farbspirale war, die am Rahmen
anfing und in der Mitte des Bildes endete. Es wurde aber so gemalt, dass
der Zuschauer unwillkürlich in dem bunten Strudel versank. Nach einigen
Drehungen kam man wieder zu sich und ging aus dem Rahmen heraus. Doch
ich ging mit jedem meiner Versuche immer mehr hinein.
Bis ich eines Tages hinter das Bild geraten bin.
Das war aber nicht die Rückseite des Gemäldes. Ich bin in eine andere Welt
geraten – ganz anders als die unsere und noch viel besser.
Im ersten Augenblick habe ich mich erschrocken. Ich sprach die Sprache
dieser Welt nicht, ich kannte die Bräuche der Einwohner nicht, ich wusste
nicht, wie ich hierher gekommen war und wie ich zurückkehren konnte. Doch
die Menschen dort erwiesen sich als sehr freundlich und außerdem drückten
sie ihre Gedanken mit wenigen Worten aus.
Sie malten gern und so verstanden sie sich untereinander viel besser, als
wir mit unseren zahlreichen Sprachen.
Es verging viel Zeit, bevor ich begann, ihre Worte zu verstehen. Doch ich
fühlte mich nicht einsam, weil ich wusste, dass es mein Land war, das Land,
in das ich als Kind zu geraten träumte. Seine Bewohner waren herzlich und
begabt und außerdem verstanden sie etwas von menschlichen Seelen…“
„War es das Land der Maler?“, unterbrach der Mathematiker ihn. „Vielleicht
bist du dort hinein geraten, da du selbst ein Maler bist? Wahrscheinlich
haben auch die Mathematiker ihr eigenes Land, wohin sie durch eine
Gleichung gehen?“
„Nein, da wohnten Sonderlinge aus allen Berufen. Doch ich weiß, dass sie
nicht zufällig dorthin geraten waren. In ihnen musste es etwas Besonderes
geben, damit das Bild sie durchlassen konnte.“
„Was war das?“, rief laut der Mathematiker. „Vielleicht ihr Intellekt oder
eine gute Ausbildung?“
„Ich denke, die Kriterien des Bildes hatten nichts mit der Ausbildung
zu tun und ganz wenig mit dem Intellekt. Eher war es eine Offenheit der
Welt gegenüber. Oder die Gabe, sich selbst zum Guten zu verändern.“
„Warum bin ich noch nicht in dieses Land geraten?“, ärgerte sich der
Mathematiker. „Ich bin ein Mensch, der sich ständig zum Guten verändert.
Ich löse immer schwierigere Aufgaben… Gestern habe ich zum Beispiel eine
Gleichung gelöst, mit der mein Chef eine Woche nicht fertig werden
konnte.“
Der Maler schickte sich an, etwas zu sagen, doch dann gab er auf, lächelte
und schüttelte einige Male seinen zerzausten Kopf. Zwischen den beiden
Freunden trat ein peinliches Schweigen ein, das der Maler schließlich
mit seinem Weitererzählen unterbrach:
„Beim Abschied war es für die Einwohner des Landes Tradition, die Fremden
zu beschenken…“
„…und sie haben dir diese bunte Seele geschenkt!“, beendete der Mathematiker
seinen Satz.
„Oh, nein“, lächelte der Maler, „das Geschenk war etwas ganz anderes…“
„Lüge mich nicht an!“, entgegnete der Mathematiker sehr wütend. „Das war
das Land der bunten Seelen und seine Bewohner haben dir eine solche Seele
geschenkt. Sag mir, wo sich dieses Bild befindet. Ich glaube, ich könnte
auch hinter das Bild geraten!“
Doch sein Freund lächelte nur wieder und winkte ab.
Als der Maler schließlich starb, sah der Mathematiker es als seine erste
Aufgabe an, sich auf die Suche nach dem Bild zu begeben. Er brauchte nicht
lange zu suchen. Er fand es auf dem Dachboden, in einem Haufen vor vielen
Jahren vergessener Gemälde.
Fieberhaft packte er es und nahm es mit nach Hause.
Seitdem verbrachte er seine Zeit mit Versuchen, in diese Welt einzudringen
und den Preis zu erlangen, den der Maler auch bekommen hatte.
Endlich, nach Tausenden vergeblicher Versuche, schaffte er es, in die
Spirale einzudringen und ihr Zentrum zu erreichen. Und sofort geriet er
in das erträumte Land, obwohl er eigentlich schon zu alt war. Doch er war
überzeugt: Selbst ein Tag mit bunter Seele ist der Mühe eines ganzen
Lebens wert.
Alles passierte wie in der Geschichte seines Freundes. Die Einwohner
empfingen ihn mit Freude und verwandelten seinen Aufenthalt in ein
unvergessliches Erlebnis.
Und als die Zeit kam, dass er gehen musste, haben sie ihm ein Geschenk
gemacht.
Sie beschenkten ihn mit der Gabe, alle seine Formeln auf dem Blatt
auseinanderlaufen lassen zu können, wenn er die Gleichung gelöst
hat.
Der Mathematiker war sehr enttäuscht wegen des unnützen Geschenkes
und protestierte:
„Wieso habt ihr mir keine solche Seele wie dem Maler gegeben? Das
ist das Land der bunten Seelen, nicht wahr?“
„Oh, nein!“, lächelte der Bürgermeister, der die Geschenke der
Abreisenden aushändigte. „Die bunten Seelen werden von einer ganz anderen
Abteilung ausgegeben.“
Und er streckte seinen Zeigefinger zum Himmel, um nicht falsch
verstanden zu werden.
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