DIE JENSEITSEHEFRAU
Das dünne Mädchen
mit einem dünnen Buch in seiner Hand –
Hölderlins Jenseitsehefrau.
Sie merkt nicht das Leben –
starrend auf den Tod –
eine Hüterin der Herden
in den Bergen von Arkadien,
wo der Geist des seltsamen Poeten
noch unruhig umgeht.
Und wenn die Zeit nicht unbarmherzig
mit dem Menschenschicksal spielte,
könnte sie ihn retten,
ihn vor der Trauer, dem Wahnsinn
und der Einsamkeit beschützen.
Sie könnte – immer diese
unmögliche Bedingungszeit!
Sie würde gern versuchen –
obwohl sie weiß, wie schwer es ist –
den Menschen zu verstehen;
nicht seinen Geist,
der immer die universelle,
und von den Epochen vernommene
Sprache spricht,
sondern diesen Menschen,
der jetzt unter uns lebt.
Und diese zärtliche und leise Meditation
unseres so jungen Geistes,
ist sie nicht in Wirklichkeit
die nicht gesehene,
unmögliche Bedingungszeit?
Das Mädchen weiß noch nicht die Antwort.
Manchmal reicht das Leben
überhaupt nicht,
damit wir einen plötzlichen Scharfblick erreichen:
Nur die Dinge,
die hier und in dieser Welt passieren,
haben einen Sinn.
Wir träumen. Und ich träumte
auch lange Zeit.
Mein Traum traf die Träume
der anderen Verschlafenen.
So lernte ich in meinem Traum
dieses Mädchen kennen.
Es war spät zu erwachen,
ich hatte bis zum Ende
die Jahre ausgeträumt.
Aber ich bedauerte diese Jugend.
Und ich sagte ihr:
Vergeude nicht artistisch
die Lebenstage, die uns wohl die Götter
in dieser Welt nur gnädig geben!
Sie hörte nicht und ging vorbei.
Sie träumte
von diesem Tag, wenn eine Jenseitsstimme
sie vom Himmel rufen wird:
Hölderlins Jenseitsehefrau!
Ich sah: Sie war so überglücklich,
dass ich meine blinde Seele fragte,
ob mir ihre Jugend wirklich leid tat
oder ich sie um das Glück beneidete,
dieses unerträglich große Glück.
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