EROS HINTER DEM VORHANG
1.
Er kommt näher, und sein Spiegelbild wird immer größer. „Geh weg“, sage ich
zu ihm, „ich werde nie wieder Männer beschreiben“.
„Was wirst du dann beschreiben, Frauen? Man sagt ohnehin, du bist nicht ganz
in Ordnung, und jetzt wird jeder erzählen, du drehst vollkommen durch.“
„Es ist gleich“, antworte ich, „das Schema muß zerstört werden. Ich werde
mir irgendeine Theorie ausdenken und ihr blind folgen. Egal, ob sie stimmt,
egal ...“
„Fanatikerin“, lacht er und setzt sich auf die Klippe. Er sitzt ein bißchen
schief – wegen seiner Hämorrhoidenoperation. Ich möchte nicht zynisch über
ihn denken, aber ich tue es: Eros hinter jeder Falte meines Gehirns.
Ich hasse mich deshalb – ist es notwendig, unablässig hinter den Vorhang
zu schauen? Ich weiß, was ich dort sehen werde: die ewig schwitzenden Körper,
den männlichen Hintern, das gebogene Bein der Frau, das runde Knie, die
Brust. Und das alles – in einem wahnsinnigen Rhythmus, hin und wieder ein
Wechsel der Stellung – und immer wieder das gleiche. Es ist nicht wirklich
interessant und dennoch faszinierend.
Morgens in der Straßenbahn sehen die Leute vollkommen geschlechtslos aus.
Aber sogar dann versuche ich, hinter den Vorhang zu spähen: Was haben sie
gestern abend gemacht, wie haben sie es gemacht ... und wieder das Relief
der Körper, die Bewegungen ...
Ich betrachte mich noch einmal im Spiegel – sehe gut aus, hübsch, auch
wenn ich nicht mehr die Jüngste bin. Aber er ist noch älter – dieser
mein Bruder. Manchmal versuche ich mir vorzustellen, wie er es macht.
Ich kann es nicht – es ist mit den Verwandten am schwierigsten, auf ihnen
liegt das Tabu des Blutes.
Ob er weiß, woran ich denke? Vielleicht, weil er gerade jetzt den Kopf
schüttelt und murmelt: „Die Männer haben dich ins Verderben gestürzt,
die Männer! Du bist eine Hysterikerin geworden, du schreist so laut,
wenn ihr ...“
Jeder hat seine Schwächen, mein Bruderherz; schau, was der Alkohol
aus dir gemacht hat.
„Ach“, sage ich, „das ist nur, weil wir uns laut streiten. Du glaubst
unbedingt, daß ich mit einem Liebhaber zusammen bin ...“
Mein Bruder ist zwanzig Jahre älter als ich. Ich bin jetzt fünfunddreißig,
doch ich fühle mich immer noch wie ein kleines Kind in seiner Nähe. Ein Kind,
das sich zitternd nach jenem Lobeswort sehnt, das aus dem Mund des Erwachsenen
nicht herauskommt. Kein einziges Wort im Laufe so vieler Jahre. Wenn es
eins gegeben hätte – ich wüßte es, noch mehr – ich hätte mir das Datum,
die Stunde und die Minute seiner Verkündung eingeprägt. Aber dieses
Wort existiert nicht.
Als ich klein war und er ein erwachsener Mann, versuchte ich ständig seine
Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Ich provozierte ihn auf jede erdenkliche
Art und Weise, einmal kam ich sogar splitternackt in sein Zimmer. Er schaute
mich an, doch ich bemerkte keinen Funken Interesse hinter seiner Brille. Er
forderte mich auf, mich hinzusetzen, und las weiter. Ab und zu fragte er
mich, wie der Tag im Kindergarten verlaufen wäre, wie es meinem Freund Ivo
ginge, und ob ich heute jemanden geschlagen hätte. Kein Interesse für
meine Darbietung!
Das war meine erste Niederlage. Ich fing aufrichtig an zu weinen, er suchte
nach einem Taschentuch und sagte dann leise: „Emi, du bist kein kleines Kind
mehr, aber du machst große Dummheiten! Geh und ziehe dich an, und wir
reden dann.“
Ich zog mich an und schluchzte die ganze Zeit. Ich wollte mich nicht mit
ihm unterhalten. Wie sollte ich ihm erklären, daß ich mir wünschte, umarmt,
geküßt, getröstet zu werden; daß ich körperliche Berührung brauchte? Ich
verspürte schon den ersten Anflug von Scham und konnte ihm all dies nicht
sagen, aber die Unmöglichkeit, mich ihm mitzuteilen, verstärkte mein Gefühl
der Verlassenheit und Einsamkeit.
2.
Ich bin der Fehler unserer Eltern. Der Professor – mein Vater – bekam
mich nie zu Gesicht. Ein betrunkener LKW-Fahrer zerquetschte ihn an einer
Hauswand, nachdem er meine Mutter ins Krankenhaus gefahren hatte. Mein
Bruder war damals Student, man holte ihn direkt von der Uni ins Leichenhaus.
Man zeigte ihm eine blutige Masse, doch er glaubte nicht, daß dies unser
Papa wäre. Dann dachte er nach und entschloß sich, Mama nichts darüber zu
erzählen – er hoffte immer noch auf ein Mißverständnis. Die Beerdigung
erledigte er allein, zwei Tage später wurde ich geboren, und am nächsten
Morgen starb auch Mama – sie war fünfundvierzig Jahre alt, und es gab
Komplikationen nach der Entbindung.
Ganz in Schwarz gekleidet, mit vom heimlichen Weinen entzündeten Augen,
erschien mein Bruder nach einer Woche und holte mich vom Krankenhaus
ab.
„Seien Sie froh, daß wenigstens Ihre Tochter noch am Leben ist!“ sagte
die Hebamme zu ihm.
„Das ist meine Schwester.“ Er würdigte die unbekannte Trostspenderin
keines Blickes, nahm mich ungeschickt auf den Arm und in den anderen –
Mamas Kleiderbündel.
3.
Das erste, woran ich mich vom Haus erinnern kann, sind die schweren,
braunen Möbel. Nichts hatte sich dort seit Jahren verändert, mein
Bruder hat auch keine Änderungen vorgenommen. Ich wuchs allein hinter
den düsteren Vorhängen auf, unter den schweren Kronleuchtern. Das
Haus war groß, mit zwei Stockwerken bot es meinen Kinderfüßen viel Raum
und Freiheit. Licht drang nur spärlich hinein, deshalb sah ich so blaß
und verschlossen aus.
Einige Tanten versuchten, sich in unser Leben einzumischen unter dem Vorwand,
daß das Haus eine Frauenhand brauche, aber German wehrte ihre Attacken ab
und nahm sich meiner Erziehung allein an. Ich kann nicht sagen, daß er der
ideale Vater war, aber er war immer für mich da. Ich fragte ihn nie,
warum er nicht heiratete; er war gutaussehend, blond, grünäugig, keine Frau
würde wahrscheinlich auf so einen Mann verzichten.
Aber Frauen kamen nicht ins Haus, und German ging auch nirgendwohin aus.
Einmal erlauschte ich etwas vom Gespräch zweier seiner Freunde. Ich war
gerade im Begriff hineinzugehen, als ich durch die offene Tür vernahm: „Die
Kleine wird ihm den Rest geben! Ihretwegen hat er auf alles verzichtet.
Ich kann ihn einfach nicht wiedererkennen.“
„Ach, laß ihn. Er ist wie besessen, ihr die Eltern zu ersetzen, und denkt
an nichts anderes. Er überschüttet das kleine Vögelchen mit Spielzeug und läßt
es nicht aus den Augen. Doch eines Tages wird es groß werden und zu einem
Jüngling fliegen. Und dann wird es zu spät für German sein.“
Ich ging auf mein Zimmer und schloß mich ein. Ich war fünf Jahre alt und
verstand nicht viel, aber ich spürte, daß ihr Dialog beleidigend war.
Damals wünschte ich mir zum erstenmal zu sterben, und wenn ich gewußt hätte,
wie ich es machen sollte, würde ich mich wohl für immer von allen Schmerzen
befreit haben, auch von jenen, die mir erst bevorstanden.
4.
Ich frage mich unausgesetzt, weshalb er mich am Ende der Saison hierher
gebracht hat. Der Herbst ist warm und trocken, im Bungalow kann man noch
ein bis zwei Monate wohnen, aber wir halten uns kaum dort auf. Den ganzen
Tag über spazieren wir getrennt im Wald, am Meer oder zwischen den Statuen.
Die Landschaft entlang der Küste ist von steinernen Kolossen bedeckt.
Aufrecht oder liegend im Gras, erinnern sie uns an eine für immer vergangene
Zeit. Es ist bitter, mich an das Mädchen zu erinnern, das vor Jahren zwischen
diesen selben Statuen umherirrte – es war jung und hatte wenig Ähnlichkeit
mit mir. Jeder Augenblick ist ein in sich geschlossenes Universum – er
läßt dich weder in sich hinein noch erlaubt er dir, ihn für immer zu
verlassen.
Damals fanden hier Bildhauertreffen statt. Bärtige Männer in Badehosen nahmen
vom frühen Morgen bis zum späten Abend den ungleichen Kampf mit dem Gestein
auf. Zum Schluß gab der Stein ihrer düsteren Hartnäckigkeit nach, aber er
stahl von ihren Tagen, und während sich die Figuren in Attribute der
Ewigkeit verwandelten, alterten die Männer und wurden ebenfalls zu Attributen
der Ewigkeit. Aber für sie war dies nicht harmlos – ich habe sie jedes
zweite Jahr an unsere Küste kommen sehen, doch ihre Haare wurden immer
schütterer und die Bärte grauer. Die hartnäckigen, starken Männer von
früher schmolzen vor meinen Augen dahin.
Die Preisträger früherer Jahre kamen nun schon als Jurymitglieder hierher.
Ihre Statuen wurden stets verkauft und am Ende jeder Veranstaltung weggetragen.
Die anderen blieben, auf ihre Chance wartend, und im Laufe der zwanzig Jahre
wimmelte der Wald von steinernen Kolossen, die zwischen den Bäumen mit blinden,
leeren Augen hervorlugten.
An einem der sonnigsten Plätze, im Gras liegend, als erwarte sie den warmen
Hauch eines Mannes über sich, findet sich auch jene, die mich darstellen sollte.
Der Bildhauer, der die Statue in jenem fernen Sommer begann, beendete sie
nie.
Als ich zum erstenmal hierher kam, war ich gerade fünfzehn Jahre alt. Den ganzen
letzten Sommer hatte German damit verbracht, den Bungalow herzurichten, um ihn
wieder bewohnbar zu machen. Ich freute mich, ich freute mich unheimlich drauf,
daß ich nur allein mit ihm im Urlaub sein würde – ich konnte die Pionierlager
nicht leiden, und der gebuchte Urlaub nervte und langweilte mich. Schon oft
hatte ich ihn gebeten, sich endlich um den „verdammten Bungalow“ zu kümmern
und nicht nur davon zu reden. Letztendlich gab er meinen Bitten nach und
fuhr ans Meer. Er blieb fast den ganzen Sommer da, wir hörten uns kurz am Telefon,
und er erzählte müde, wie die Arbeit lief.
Im Herbst kam er mit Vollbart zurück, stellte fest, daß ich abgenommen hatte
und begann, mich zu füttern – wir gingen fast jeden Tag ins Restaurant und
besuchten Cafés und Konditoreien.
Ich nahm trotzdem weiter ab, und er beobachtete mich besorgt.
„Emi, was ist los mit dir? Ist etwas in meiner Abwesenheit passiert?“
Ich schwieg. Ich konnte ihm nicht erzählen, daß ich mich in diesem Sommer
zum erstenmal verliebt hatte, und der Gedanke an den fernen Mann vom
Bildschirm meine Tage vergiftete.
Im nächsten Jahr schloß ich die achte Klasse ab, und als Belohnung brachte
mich German ans Meer, in unseren Familienbungalow. Er verbot mir, Bücher
zu lesen – ich kam ihm immer noch zu mager und überspannt vor. Er hatte
weiter Angst um mich und konnte sich nicht an den Gedanken gewöhnen, daß
er sich keine Sorgen mehr machen mußte, wenn ich die laute Straße vor der
Schule überquerte oder mich nach dem Unterricht verspätete.
Ich nahm nur ein Heft mit, dem ich meine Empfindungen, meine Liebe zu jener
körperlosen Gestalt – dem Filmphantom – anvertraute.
5.
„Schreibst du immer noch in jenes Heft?“
„Warum interessierst du dich dafür?“
Ich sehe ihn an: Was meint er damit? Ich finde keine Antwort; dagegen stelle
ich fest, wie sehr er in den letzten Jahren gealtert ist.
„Du mischst dich wieder in fremde Angelegenheiten ein.“
„Das ist mein Beruf.“ Er lacht.
German ist Journalist, einer der besten, und ich denke – der beste von
allen. Nicht, weil er mein Bruder ist, er ist einfach unersetzlich. Es
gibt keinen anderen, der so genau die Tatsachen deutet und derart exakte
politische Prognosen aufstellt. Und seine Kommentare sind einfach phantastisch –
als wetteiferten die Staatsmänner miteinander, das zu machen, was German in
seiner letzten Sendung vorausgesagt hat. Seine Freunde nennen ihn „die
politische Pythia“, und wenn sie es schaffen, ihn für ein bis zwei Tage
vom Alkohol fernzuhalten, ist er kaum wiederzuerkennen. In der übrigen
Zeit geht er überhaupt nicht zur Arbeit und wird wahrscheinlich nur dank
seiner Begabung und des langen Schattens unseres Vaters geduldet. Ich muß
oft daran denken, daß er, wenn ich und der Alkohol nicht wären, vielleicht
irgendwo ganz weit, weit von hier, sein würde...
Dennoch ist es mir unangenehm, wenn er mich an jenes Heft erinnert – obwohl
viel Zeit vergangen und seine Anspielung ganz harmlos ist.
Ich begann das Heft in jenem Sommer, als ich mich in den Filmschauspieler
verliebt hatte und ihn nicht mehr aus dem Kopf bekam. Schon bald begann ich,
an die Realität dieses Menschen zu glauben; ich glaubte, daß es möglich wäre,
ihm hier, an diesem Strand, zu begegnen, und kam nie auf die Idee, daß ich
eigentlich dem Unmöglichen begegnen wollte – nicht dem lebendigen Mann,
sondern jenem, dessen Gestalt in der irrealen Zeit auf dem Filmband
existierte.
Es konnte auch nicht anders sein – das Grün und das Meer, das Licht und
das unaufhörliche Hämmern der Meißel brachten mich völlig durcheinander.
Ich spürte in meinem Körper einen mächtige Anspannung: Ein namenloser,
aber heftiger Kummer bedrängte mich von allen Seiten. Ich stand nachts
auf und betrachtete stundenlang den Mond und den benachbarten Bungalow,
der sich deutlich im Schatten des nächtlichen Himmels abzeichnete. Mit
Einbruch der Dunkelheit überwältigte mich das Gefühl von Verlassenheit
und Einsamkeit. Mir fehlte die Großstadt, obwohl auch die Gegend hier
dicht mit Wochenendhäuschen und Bungalows bebaut war. Die meisten Leute
verbrachten jedes Jahr ihren Urlaub hier und kannten sich
untereinander.
Nur wir waren fremd, manche der älteren Nachbarn erinnerten sich vielleicht
an German und meine Eltern, aber von mir hatte keiner je etwas gehört.
Wie sahen wir beide aus? Hin und wieder stellte ich mir auch diese Frage. Wie
ein junger Vater und seine erwachsene Tochter? Oder wie ein alter Lüstling,
der seine minderjährige Geliebte hierher gebracht hat, um sich mit ihr weit
weg von den vorwurfsvollen Augen der Leute zu vergnügen? Ob jemand die
Wahrheit erraten konnte? Ich war eher meinem Vater ähnlich – hochgewachsen
und dunkelhäutig, und German erinnerte mehr an die skandinavische Schönheit
meiner Mutter. Es war schwer zu glauben, daß ich seine Schwester war; er
gab auch keine Erklärungen, Fragen beantwortete er einsilbig, und so, ohne
daß wir uns besondere Mühe gaben, erreichten wir jene Einsamkeit, die
eigentlich unsere zweite Natur war.
In jenem Sommer war ich völlig durcheinander. Ich trieb mich tagelang am
Strand nur im Badeanzug herum, und die Sonne veränderte mich bis zur
Unkenntlichkeit – ich sah jetzt einem Stück Harz ähnlich, mit einem goldenen
Schimmer an der Oberfläche. Ich schlenderte am Strand wie die alten Götter,
die diese Erde bewohnt hatten, bevor sie von der Zivilisation in die Bücher
hineingeschoben wurden. Ich betäubte mich durch die Sonne, durch meine
Jugend und durch das Grün; das Blaue des Himmels war uferlos, die Luft –
ätherisch und warm, und das Weiß der Häuschen in der Ferne erinnerte an die
weißen Vögel der Unschuld.
Ich glaubte, daß meine Einsamkeit ewig währen würde, und die steile Küste sowie
der kleine Strand, verborgen zwischen den Klippen, nur mir gehörten. Deshalb
war ich so überrascht, als ich den Mann erblickte, der sich auf meiner Klippe
wie eine träge, braune Eidechse sonnte.
Ich schwamm im Meer und war gerade im Begriff, auf die Klippe zu steigen, als
ich ihn sah und zusammenzuckte – er war splitternackt. Sein muskulöser Körper
zeichnete sich deutlich auf dem hellen Stein ab, und verwirrte mit seiner
aufrichtigen Natur.
Ich wußte nicht, ob ich bis zu diesem Zeitpunkt einen nackten Mann gesehen
hatte; jedenfalls erinnerte ich mich nicht daran. Vielleicht gerade deshalb
erschütterte mich das Gesehene. Die Unvereinbarkeit des männlichen Körpers
mit den gleichmäßigen Formen der Frau, die ich bis jetzt als einzig möglich
gehalten hatte, brachte mich in Verlegenheit. Ich betrachtete ihn, als wäre
er ein Wesen von einem anderen Planeten, und konnte mir immer noch nicht
erklären, warum da, wo, nach allen Gesetzen der Schönheit, der Körper und
die Schenkel ineinander in ein Tal verschmelzen sollten, etwas diese
Harmonie zerstörte und die Gesetze zunichte machte?
Meine Betrachtung dauerte nicht lange; ich fühlte so etwas wie Ekel in mir
aufsteigen, und im selben Augenblick verachtete ich diesen unvollkommenen
Menschen. Ich überlegte mir, daß der Überfluß die Natur nie zur Vollkommenheit
führt, dann schob ich mich leise von meinem Versteck ins Wasser und begann,
zur Insel zurückzuschwimmen.
Kurz bevor ich sie erreichte, geschah etwas Unerwartetes – ein starker Strudel
erfaßte plötzlich meinen Körper und zog mich nach unten. Die Überraschung raubte
mir fast die Besinnung. Das Wasser schien mich in irgendwelche Rechnungen
einzubeziehen, von denen ich weder gewußt hatte, noch an ihnen teilhaben
wollte. Im nächsten Augenblick schleuderte es mich an die Oberfläche; ich
vermochte Atem zu holen und zu schreien, danach zog der Strudel mich
wieder in die Tiefe.
Als ich erneut auftauchte, war der Mann auf der Klippe nicht mehr da. Durch
mein entsetztes Hirn schoß der Gedanke, daß er weggegangen sein könnte. Ich
verlor jegliche Selbstbeherrschung, begann zu schreien und schluckte gleichzeitig
Wasser.
Ich erwachte an einem Ort, der mir ebenso fremd war wie die Kleider, die mich
umhüllten, und die Menschen um mich herum.
„Bist du jetzt wach, Nixe?“, fragte mich ein Mann, und ich erkannte in ihm
jenen Mann, den ich aus meinem heimlichen Versteck beobachtet hatte. „Ich ging
auf Jagd, um Meeresgeheimnisse zu suchen, und kam mit einer Nixe zurück. Wie
heißt du, Neptunstochter?“
Ich sagte ihm meinen Namen, aber ich hatte keine Kräfte für ein weiteres
Gespräch und schloß die Augen. Meine Gedanken flossen träge, sie vermischten
das Erlebte mit dem Gelesenen. Für einen Augenblick überlegte ich, ob ich
nicht in die Hände von grünen Männchen, verkleidet als Menschen, geraten
wäre. In ihren Gesichtern erblickte ich etwas Ungewöhnliches, nicht ganz
Irdisches. Ja, ich hatte vorzeitig ihr Geheimnis erraten und sollte jetzt
meine Strafe büßen.
Als hätte man meine Gedanken gehört, meldete sich von der Tür die Stimme
eines alten Mannes: „Sie hat die alten Götter verärgert, und sie wollten
ihr Angst einjagen...“
Ich drehte meinen Kopf in die Richtung, aus der die Stimme kam. Es war
tatsächlich ein Greis, der mir einen heißen Tee brachte.
6.
„Führst du immer noch das alte Heft, oder hast du inzwischen die Übersicht
verloren?“
German ist hartnäckig wie ein Esel. Er fragt wieder nach jenem Heft, auf
dessen ersten Seiten ich meine erste Liebe beschrieben hatte – einen
französischen Schauspieler, nach dem ich mich heimlich verzehrte. Später
riß ich diese Blätter heraus – es gab keine Aussicht, ihm zu begegnen –
aber alle anderen Männer, die ich in das Heft eintrug, waren meine Liebhaber.
So blieb jener Bildhauer am Anfang, der mich zur Frau machte in jenem
wahnsinnigen Sommer, als ich beinahe gestorben wäre. Er war mein Retter,
und ich war der Meinung, daß ich ihm sowohl meinen Körper als auch alle
weiteren Tage schuldete. Aber er gab sich mit Wenigem zufrieden – eines
Abends zog er mich an jenem Strand aus, auf jener gleichen Klippe; dann
schwemmte das Meer das Blut aus, und in meinem Hirn erschien die erste
Zelle des mächtigen Eros, der später vollkommen meine Gedanken beherrschen
sollte.
„Ich habe es längst fertiggeschrieben.“
Das ist zwar die reine Wahrheit, aber er schüttelt mißtrauisch den Kopf. Es
ist gleich, ob er mir glaubt!
Später ärgert mich das und ich füge hinzu: „Ich schreibe schon das vierte,
nur zu deiner Information!“
„Ich habe volles Vertrauen zu dir“, lacht er, aber jene unerklärliche Trauer,
die ihn beherrscht, seitdem ich ihn kenne, wirft wieder ihren Schatten auf
sein Gesicht.
Na, was ist, mein Bruderherz, denke ich, beneidest du mich etwa, weil ich tue,
was dir verwehrt bleibt.
„Bist du neidisch?“ rutscht die Frage aus meinem Mund, zu der ich kein Recht habe.
Er zuckt zusammen, ich spüre, daß ich seine Achillesferse getroffen habe.
„Wenn ich jemand anderer wäre“, er spricht langsam, anscheinend überlegt er
jedes Wort, „würde ich sagen, daß ich die Männer beneide, die mit dir zusammen
sind. Doch du bist Emilia, meine Schwester ...“
Jetzt zucke ich zusammen. Er weiß nicht, daß er mir einen Schlag versetzt hat –
er kann nicht wissen, daß mich eben das Erwähnen unserer Verwandtschaft
kränkt.
„Du verstehst nichts von Frauen!“ versuche ich, ihn noch einmal zu verletzen,
aber er lächelt nur unbestimmt.
„Ich verstehe viel von Frauen, Emilia!“ Jetzt sehe ich nur sein Profil und
kann seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen, „Ich verstehe viel von
Frauen.“
Meine Überraschung ist hinter meinem nervösen Aufstehen und den Schritten
auf dem Gras leicht erkennbar. Ich weiß nicht, worüber ich mehr staunen
soll – über seine gute Meinung von mir oder die Behauptung, daß er etwas
von Frauen verstünde? Beides wäre für mich der Beweis für sein
Doppelleben.
Ich sehe ihn verärgert an und schweige. Ja, ich könnte sagen „Ach so!“
oder nur „Quatsch!“, aber das würde meine Verwirrung nur noch deutlicher
offenbaren.
„Schlafen wir draußen?“ wechselt German das Thema.
Ich beginne, die Betten aufzudecken.
„Emilia“, vernehme ich seine Stimme in dem Augenblick, wo ich davon überzeugt
bin, daß er schläft, „erinnerst du dich an jenen Sommer und an deinen
Badeunfall?“
Ich antworte ungern und ganz schlaff.
„Wozu brauchst du das, German?“
„Du hast mir damals versprochen, mir etwas zu erzählen...“
„Was soll ich dir erzählen?“
Eigentlich erinnere ich mich sehr gut, was ich ihm erzählen wollte, aber ich
versuche seit Jahren, nicht daran zu denken.
„Ich habe es schon fast vergessen ...“
„Solche Sachen vergißt man nicht!“ Ich spüre den Vorwurf in seiner Stimme.
Du hast recht, mein Bruder, so etwas vergißt man nicht. Ich war damals eher
beeindruckt von jenem Märchen als erschrocken über die Begegnung mit dem Tod.
Doch bin ich vielleicht schuld, daß es kein Spielzeug für heranwachsende
Mädchen war? Es war etwas total Verrücktes und Ernstes. Und ich fürchte
mich instinktiv, dir davon zu erzählen; anfangs dachte ich, daß mich nur die
Scham davon abhielt: Ich lag doch ganz hilflos inmitten eines Rudels von
Männern, die bestimmt lange genug meinen Körper beschaut hatten, als sie
mich herausgezogen hatten und versuchten, das Wasser aus mir auszupumpen.
Und als ich wieder zu Bewußtsein kam – erzählte mir einer von denen diese
halb phantastische, halb erotische Geschichte. Ich versuchte jahrelang, sie
zu vergessen; aber ich spürte, daß du jeden Sommer, als wir hierher kamen,
an mein Versprechen dachtest und die Fragen auf deiner Zunge lagen. Zum Schluß
begann ich das Meer und diesen Bungalow, und die ganze Welt, die solche
Geschichten erfindet, zu hassen...
7.
Einmal kam ein seltsamer Mensch auf diese Klippe. Man nannte ihn den
Vieläugigen, weil er nicht nur zwei Augen in seinem Gesicht hatte, sondern
auch Hunderte auf dem ganzen Körper. Das geschah vor langer Zeit, lange
bevor die Menschheit geboren wurde.
Er war der Erbe einer Menschenrasse, die sterben sollte, weil ihre Zeit
abgelaufen war. Ihre Zahl war nicht groß, aber sie beherrschte den ganzen
Planeten und war durch ihre Macht berühmt.
Bevor sie starben, erfanden die Uralten eine Möglichkeit, ihren Geist in
einen von ihnen fortzupflanzen. Er entstammte der letzten Frau, die sterben
sollte, um den Sohn aller anderen zu gebären. Und da in der Natur nichts
ohne Gegenpart existieren kann, erkannten die Uralten bald, daß im Leib
der letzten Mutter zwei Embryos heranwuchsen. Sie fragten durch das dünne
Gewebe des Mutterbauches, wer der andere wäre, und verstanden, daß die
Geburt des Sohnes ohne das Erscheinen einer Tochter nicht möglich war und
daß jeder Versuch, sie zu vernichten, mit seinem Tod enden würde.
An dieser Stelle unterbrach der Bildhauer den alten Mann: „Kapitän, trübe
den Verstand des Mädchens nicht, es ist sowieso durch das Erlebte verstört.“
Ich protestierte verärgert, und der Alte schaute ihn triumphierend an.
Der Sohn wurde so geboren, wie sie ihn brauchten. Er hatte ein Hirn, das aus den
Abdrücken ihrer Hirne bestand, und Augen entsprechend der Zahl der Augen seiner
Schöpfer. Seine Schwester, im Gegensatz zu ihm, war blind und – zum Entsetzen
ihrer Erzeuger – innen ganz hohl. Hohl im wahrsten Sinne des Wortes – sie hatte
nur ein Skelett und Muskeln, und anstelle ihrer Augen klafften zwei Schlitze –
wie jene, die die Bildhauer in die Augen ihrer Figuren meißelten – und diese
Leere verband sich mit der inneren, wieder wie bei den Statuen dieser Nichtsnutze,
der Bildhauer.
An dieser Stelle protestierte die Gesellschaft laut, es kam alles in Bewegung,
und ich konnte mich jetzt umsehen und herausfinden, wo ich mich befand. Ich war
in einem der Bungalows der bulgarischen Teilnehmer am Kunstwettbewerb. Ich
errötete bei dem Gedanken, daß mich mein Retter gesehen hatte, als ich mich
hinter der Klippe versteckte – es wäre ihm sonst nicht möglich gewesen, so
schnell zu erkennen, daß ich ertrank.
Ich fühlte mich ganz nackt und ausgeliefert; meine Augen füllten sich mit
den Tränen der Erniedrigung, aber niemand spürte meine Verlegenheit – im
Bungalow herrschte Halbdunkel, und die Menschen waren mit sich selbst
beschäftigt. Nur jener Teufel – der Greis – beobachtete mich hinter seinen
zusammengekniffenen Lidern, und das tat mir sehr weh.
Es war merkwürdig, wie sich das Baby bewegte. Seine Schönheit und die
seltsame Fähigkeit, ohne Organe und Augen zu leben, hielt die Schöpfer ab,
es zu töten. Sie waren eine alte, humane Rasse und konnten kein menschliches
Wesen vernichten, unabhängig davon, ob es ihnen ähnlich sah oder ganz
anders war.
Sie brachten das Baby an den entgegengesetzten Punkt der Erde, mehr konnten
sie nicht tun, weil ihre Zeit abgelaufen war. Danach legten sie sich in ihre
gemeinsame Grabstatt tief unter der Erde und schliefen ein. Oben blieb ihr
Sohn, mit ihren Augen sehend, mit ihren Gehirnen denkend, und sie setzten
ihr Leben unter der Erde durch ihn fort. Sie waren ruhig, weil sie fest daran
glaubten: Die Welt ist ewig, eine neue Menschenrasse wird geboren werden, und
der Sohn ist ihr Bote. Er wird ihr Wissen weitergeben, und dadurch werden
sie das Recht erwerben, eines Tages wieder ins Leben zurückzukehren.
Der Sohn, Hoffnung und Zuversicht der Unterirdischen, irrte Tag und Nacht
auf der Erde umher und wuchs; er erlernte ihre Wahrheiten, freute sich über
die Gezeiten, berührte mit seinen Fingern die Blumen, und alle Schlafenden
taten das gleiche durch ihn.
Eines Tages verspürte er aber einen merkwürdigen Durst, den er weder beim
Namen nennen konnte, noch kannte. Die Unterirdischen waren beunruhigt –
sie kannten diesen Durst sehr gut. Ihre einzige Hoffnung blieb die
Entfernung, die den Bruder von der Schwester trennte. Sie wußten: Falls
sich die beiden trafen, würde diese Begegnung nicht nur das Ende für sie
selbst sein, sondern auch für alle, die unter dem Gras lagen und ein Leben
jenseits des Lebens und Glück nach dem Tod erwarteten. Anscheinend konnten
sie nicht alles voraussehen – sie rechneten nicht damit, daß, wenn sich
die Frau nicht zum Mann begibt, er eines Tages zu ihr gehen wird – und
dann wären alle Hindernisse für ihn wie Kinderspielzeug.
Der Sohn bewältigte alle Gefahren und kam zu dem Felsen, wo die Hohlfrau
lebte; er kam trotz des beunruhigten Flüsterns seiner Eltern, die ihn zu
retten versuchten.
Die Schwester ist der ewige Gegenpart des Bruders, und hinter ihrem Streben
zueinander verbirgt sich die Vernichtung des Mannes. Selbst wenn sie versucht,
ihn vor sich zu retten, bleibt das Ziel immer dasselbe: Abstumpfung seiner
Sinne bis zu ihrer vollkommenen Verkümmerung und zum Tod, Beherrschung seines
Geistes durch den Genuß und das Fleisch.
„Das stimmt nicht!“ brüllte ich, und der Alte schaute mich überrascht an.
„Ich liebe German und will nicht seinen Tod!“
Der Alte schüttelte den Kopf.
„Es ist gleichgültig, was du willst, es ist egal! Deine Natur ist stärker
als deine Wünsche ...“
In diesem Augenblick verspürte ich, daß ich ihn für immer hassen würde, aber
viel später erst begriff ich, daß mein Haß von der Wahrheit geboren wurde.
Habe ich nicht tagtäglich German und seine Zukunft als journalistisches
Genie vernichtet? Warum zog er mich jener Zukunft vor, warum bevorzugt der
Mann immer die Frau vor dem Geist, oder, wenn er den Geist bevorzugt, dann
nur, damit er wieder die Frau durch ihn gewinnt?
Dieser alte Teufel sprach die Wahrheit und stieß damit mein Leben in
schreckliche, fruchtlose Abgründe. In den restlichen Jahren meines Lebens
irrte ich unaufhörlich zwischen Hoffnung und Verzweiflung umher, zwischen
dem Wahnsinn und dem Wunsch zu beweisen, daß die Wahrheit eine Lüge
ist.
Ich wurde zur Beute Hunderter Männern, aber das half German nicht, und die
anderen rettete es ebensowenig – wer weiß, ob ich für die meisten nicht
die Rolle der Schwester und Vernichtung gespielt habe?
Eines Tages begegnete der Vieläugige der Frau und verlangte, in ihre
Geheimnisse einzudringen.
„Du wirst deine Augen verlieren!“ flüsterten die Uralten unter der Erde.
„Und wenn ich sie verliere“, antwortete er.
„Du wirst darunter leiden!“ flüsterten sie von neuem.
„Ich leide jetzt schon“, sagte der Sohn bitter.
„Wir werden blind und sterben mit dir!“ stöhnten die Unterirdischen.
„Mit meinem Tod verliert alles an Bedeutung“, sagte er schroff und lief
zu der Frau.
Für jedes Eindringen in sie bezahlte er mit einem Auge – ein Bewußtsein
erlosch unter der Erde, und Stöhnen erschütterte das Land. Diese Erkenntnis
bereitete ihm Schmerzen – jeden Tag schlugen die Wellen ihm ein Auge aus
seinem Körper – der Preis für den in der Nacht erlebten Genuß.
Einmal hielt er den Schmerz nicht aus, warf sich ins Meer, und es verschlang
ihn. An seiner Statt begann dann das Meer zu sehen – die Uralten bekamen
wieder Augen und Bewußtsein, aber ihre Natur wurde unmenschlich, stürmisch
und vernichtend.
Als der Sohn aus dem Leben schied, begannen die Uralten so laut zu stöhnen,
daß sie den Erdboden erschütterten, und die Küste hob sich gegen die Frau
empor.
Steine überschütteten sie, und die Erde verschlang sie für immer. Doch in
diesem Augenblick flog ein großer Vogel herbei, stürzte sich stürmisch ins
Meer und begann mit seinen Flügeln das Wasser zu schöpfen. Darunter schauten
dann zwei durstige blaue Pupillen hervor – der Sohn suchte weiter nach der
Tochter, und durch ihn mußten die Uralten wieder ihre Zerstörerin sehen, die
tief unter der Erde verschüttet lag, aber nicht tief genug, um seinen
verliebten Blicken zu entgehen.
So wurde das Streben des Meeres zur Küste geboren, und die Grenze zwischen
beiden wurde sehr schmal – das Land ist immer von dem Wunsch des Bruders
gefährdet, daß er für immer mit seiner Schwester durch die Zerstörung
vereinigt wird. Das ist das ewige Eindringen des Anfangs in das Ende,
des Lebens in den Tod, und wer kann sagen, wo das eine endet und das
andere beginnt? Die Natur weigert sich hartnäckig, uns ihre Geheimnisse
umsonst anzuvertrauen, die Uralten mögen uns nicht und werden nie freiwillig
ihr Wissen der Menschheit weitergeben – denn sie hilft nur dem Bruder mit
ihren Schiffen und Erfindungen, daß er die Schwester sieht. Deshalb sind
die Menschen verurteilt, alle Wahrheiten ganz von Anfang an selbst zu
entdecken, und das im Kampf gegen die Naturgewalten, nicht mit ihrer
Hilfe. Wir büßen jeden Tag die Schuld des Sohnes, und jede Menschenwelle
ist ein Menschenleid.
„Du hast wahrscheinlich die Uralten verärgert, und sie wollten sich an
dir rächen. Und wieder hat dich dein Bruder gerettet, aber er allein wird
nicht gerettet werden...“
8.
„Kleine Schlampe!“ zischte damals mein erster Mann, „Ich hielt dich für
ganz unschuldig, und du beherrschst deine Sache bis zur Vollkommenheit.“
Ich wurde verlegen, ich begriff nicht, was ich mir hatte zuschulden kommen
lassen – er bestand darauf, mit mir zusammen zu sein, und ich traute mich
nicht, ihm den Wunsch abzuschlagen.
Tränen, salziger als das Wasser um uns herum, liefen über meine Wangen und
wollten nicht versiegen. Scheinheilig begann er mich zu trösten, er wollte
mich eigentlich nicht beleidigen, er hätte vergessen, daß ich ein kleines
Mädchen wäre, die Worte seien ihm einfach herausgerutscht.
Am nächsten Tag – vielleicht aus Liebe, vielleicht aus Schuldgefühl – warf
er die Arbeit an der „Balkanfrau“ zur Seite und nahm sich vor, mich aus
dem Stein herauszumeißeln. Aber die Zeit reichte nicht aus, und anstatt
mich aus der Umarmung des Marmors zu befreien und mich „Unschuld“ zu nennen,
mauerte er mich für immer in ihn ein.
Vielleicht bin ich im Stein geblieben, weil ich nicht mehr unschuldig war,
und die Uralten konnten es nicht zulassen, daß durch die Hand des Schöpfers
eine Unwahrheit ausgesprochen wird.
Ich sah ihn nie wieder und sehnte mich lange nach seinem Gesicht und seinen
Lippen. Im nächsten Sommer heiratete er eine Skandinavierin und ging zu ihr,
dann verlor sich seine Spur auf den anderen Kontinenten. Er kam nie mehr
zu den Kunstwettbewerben, und ich suchte ihn jahrelang an diesem Strand,
an allen Stränden der Welt, verwechselte ihn nur wegen eines einzigen
bekannten Gesichtszuges mit Hunderten von unbekannten Männern. Doch die
waren weder imstande zu lieben, noch waren sie ihm ähnlich. Und wie
sollten sie ihm ähnlich sein, da ich selbst mit den Jahren seine echten
Gesichtszüge verloren und tausendfach verändert hatte?
Wie ertrug German all dies? Anscheinend litt er darunter, da er in jenem
Herbst den oberen Stock bezog und sich mit mir nur wegen Schulproblemen zu
treffen begann. Ich sah sein Leiden und empfand kein Mitleid mit ihm,
noch mehr – ich ließ mich von meinem Sieg berauschen, ich wollte, daß
er darunter litt. Das hatte er verdient, litt ich schließlich nicht
auch seinetwegen?
So trat der schicksalhafte Eros in mein Leben, der mein Bewußtsein steuerte
und mich in allem, was ich tat, zwang, nur den Mann zu sehen; nur den Genuß,
den ich als Belohnung für meine Taten bekam. Das wurde zu meinem Antrieb,
doch mit solchem Motor kommt man nicht weit.
German war wahrscheinlich von meiner Entwicklung enttäuscht. Er freute
sich nicht einmal, als ich das Gymnasium und die Universität mit
Auszeichnung abschloß – er begriff vielleicht, daß das, bei meiner
Lebensweise, das Ende meiner Erfolge war. Versuchte er denn, das
Männerrudel zu verscheuchen, das unser Familienhaus umkreiste? Am
Anfang schien es so, aber später sah er die Hoffnungslosigkeit dieses
Kampfes ein und gab auf. Möglicherweise suchte er immer noch heimlich
nach dem Heft, um herauszufinden, was mit mir los war; aber ich
versteckte hartnäckig alles, was mit dieser Seite meines Lebens zu tun
hatte – ich wollte nicht, daß er erfuhr, in was für ein Karussell ich
geraten war. Er allein durfte nicht wissen, wie armselig ich mich
fühlte – obwohl er es sicherlich ahnte.
Ich trug in meinem Inneren eine gewaltige Leere, ich war die Schwester!
Der arme German, er verwandelte sich in einen Gast des Hauses, in einen
heimlichen Bewohner und unsichtbaren Hausgeist. Er schritt wie ein Schatten
durch die Zimmer und achtete darauf, daß sich seine Wege nicht mit meinen
und denen der Männer, die mit mir im ersten Stock hausten, kreuzten.
In diesem Dschungel bewegten wir uns wie einsame Raubtiere auf unseren
geheimen Wegen. Wir achteten darauf, daß sich unsere Schatten nicht
vermischten; daß jenes Zerfressen nicht von neuem begann, zu dem jede
neuerliche Begegnung verurteilt war.
Damals fing vermutlich auch sein Alkoholproblem an. Es begann ganz still
und würde wahrscheinlich genauso still eines Morgens enden, wenn man ihn
zusammengekrümmt auf dem Teppich vor dem Bett finden wird. Ich weiß nicht
warum, aber ich sehe ihn immer auf diese Weise: tot – zusammengekrümmt
wie ein geschlossener Koffer, der die Geheimnisse der Existenz für immer
in sich aufbewahrt.
9.
Seit einigen Tagen frage ich mich, warum er darauf bestanden hat, daß
wir hierher kommen – in den letzten Jahren verbrachten wir unseren Urlaub
immer getrennt und vermieden es, an diese Küste zu fahren. Jetzt, am Ende
der Saison, sind fast keine Leute mehr am Strand zu sehen; es gibt
niemanden, mit dem man ein paar Worte wechseln könnte. Wir unterhalten
uns auch nicht – eine unerklärliche Trägheit, vermischt mit Angst, beherrscht
uns. Die Wahrheit ist gesagt, darüber können wir nicht schweigen – deshalb
bevorzugen wir es, uns überhaupt nicht zu begegnen.
Am Tage irre ich zwischen den Statuen umher – sie hatten sich in zwanzig
Jahren in einen furchteinflößenden Wald aus Stein mit Hunderten von Gesichtern,
Armen und Augen verwandelt. Und unter ihnen, irgendwo im Freien, lag im
Schlamm auch meine Statue. Ein Sturm warf sie um und sie blieb dort liegen:
eine nackte Figur mit meinem Gesicht. Und so, halb in den Stein gemeißelt,
erinnerte sie an eine Frau, die das warme Fleisch des Mannes über sich erwartet.
Widerlich aufrichtig – als ob sie den Vorhang ganz beiseite geworfen und der
ganzen Welt gezeigt hätte, was dahintersteckt. Seit Jahren haben wir ein
gemeinsames Geheimnis: Wir können beide die Männer nicht ausstehen und
versuchen dies in Demonstrationen von Liebesfreiheit und Leidenschaft zu
verheimlichen.
Immerhin mochte ich hier nicht leben, kein Teil dieser Landschaft sein,
die die Zukunft verleugnet. Weckte dieses Mißtrauen die merkwürdige Sehnsucht
nach der Vergangenheit in uns die einzige Realität, die uns immer noch
übrigblieb? Jetzt gingen wir im Bungalow schweigend aneinander vorbei,
und unsere Wege kreuzten sich nur scheinbar – einer von uns, egal wer,
war schon ins unterirdische Reich gegangen, und nur sein Schatten
erinnerte ab und zu daran, daß es solch einen Menschen auf der
Erde gab.
„Wen willst du beschreiben, Frauen?“ fragt er mich und lacht.
Ich schaue ihn überrascht an – das sind seine ersten Worte seit zwei
Tagen. „Man sagt sowieso, daß du nicht ganz in Ordnung bist, jetzt ...“
Das ist ein Teil von unserem Spiel der Anwesenheit, ein kleiner Monolog,
der nur scheinbar den Monolog des anderen durchquert. So ist es, mein
Bruder, wir sind beide ein bißchen verrückt, das Blut der Professoren
pulsiert doch in uns. Ich kann nur nicht verstehen, warum du dich nicht
ganz dieser Trägheit überläßt. Wo verlierst du dich stundenlang nachts,
und warum wäschst du am Morgen heimlich deine Kleider? Gibt es endlich
eine Frau, mein Bruder, endlich eine Frau?
„Ach, was“, sage ich, „das ist nur, weil wir uns so laut streiten... Weil
wir uns streiten...“
10.
German ist vor zehn Minuten gegangen. Ich spürte ihn, trotz seiner leisen
Schritte und der lautlosen Bewegung eines Elchs, obwohl er die Schuhe in
der Hand trug. Ich hörte ihn, als er kurz vor der Tür hielt, um seine
Schuhe anzuziehen, und dann verloren sich seine unsicheren Schritte in
der Dunkelheit.
Wenn er das Auto genommen hätte, würde ich wissen, daß er dorthin fährt,
wo es hell ist, und müßte mir keine Sorgen machen. Aber er tauchte in die
Dunkelheit ein, und das war verdächtig.
Ich ging hinter ihm her, folgte der Richtung seiner Schritte. Ich hoffte
nicht, ihn einzuholen, aber ich konnte auch nicht mehr im Bett bleiben.
Er hatte kein Recht, einfach so herunterzukommen, vor meinem Bett
stehenzubleiben und mich zu beobachten – ich weiß nicht, ob er mein
Wachsein bemerkt hatte, aber ich sah sehr gut das reflektierte Licht
in seinen Augen – und dann wegzugehen. Immerhin war er die einzige feste
Größe in meinem Leben.
Je tiefer ich in den Wald hineinging, desto größer wurde meine Angst.
Gleichzeitig wuchs mein Wunsch, den Weg eines nächtlichen Wesens fortzusetzen.
Falls ich eins von denen würde – könnte ich ein Leben für German erbitten,
in dem ich nicht geboren würde, und er mich nicht an jenem Tag aus dem
Krankenhaus geholt hätte.
Etwas zog mich gewaltig dahin, immer näher, bis zu dem Augenblick, als
ich begriff, daß ich nicht mehr umkehren konnte.
11.
In einer Nacht ging die Schwester zu ihrem Bruder. Sie ging nicht wegen
des Durstes des Fleisches, der längst in ihr erloschen war, sondern weil
sie um jeden Preis sein Geheimnis erfahren wollte.
„Halt!“ flüsterten besorgt die Uralten, „du wirst unendlich leiden...“
„Ich muß das Geheimnis dieses unbesiegbaren Durstes entdecken“, antwortete
sie, „ich möchte herausfinden, ob dieser Durst die Grundlage von allem
Existierenden ist, oder nur eine parallele Welt, in der die Stärkeren
nach eigenem Wunsch anwesend sind, und die Schwachen ihr ganzes Leben
unter ihrer Macht bleiben.“
„Du wirst das nie verstehen, und falls du es verstehst – wirst du nie
Gebrauch davon machen“, antworteten die Uralten. „Und du wirst
leiden!“
„Ich leide jetzt schon“, sagte die Schwester und schloß so den Kreis.
Und in diesem Augenblick – als wäre er gleichzeitig geheult, geflüstert
und gezischt – hörte sie ihren Namen und begab sich zu der Stimme.
„Emilia ... Emilia ... E-mi-li-a ...“
In dieser Stimme meldete sich jener Durst, den die Schwester sehr gut
kannte und zu vernichten suchte.
Ein Blitz durchzuckte den Himmel, und die nächststehende Statue brach
zusammen. Die Frau blickte zum Himmel auf – er war klar und wolkenlos.
Sie begriff: Die Uralten warnten sie.
Die Schwester achtete nicht mehr darauf, wo sie hinlief, sie wußte,
daß sie sich beeilen mußte, und ließ sich von der Stimme führen.
„Emilia ... E-mi-li-a ... E-mi-li-a...“
Eine weitere Statue brach zusammen; die Trümmer trafen ihre Beine und
begruben sie fast. Der Schlag war diesmal ganz in der Nähe gewesen,
und sie begriff, daß sie einen weiteren nicht überleben würde. Mit
Mühe gelang es ihr, ihre blutenden Beine herauszuziehen und weiter
dem Flüstern nachzulaufen.
Die Schwester wollte schon umkehren, aber das Geheimnis war mächtiger
und trieb sie weiter. So, unschlüssig und angsterfüllt, kam die Frau auf
die Wiese. Stille trat ein, und der Mond beleuchtete die Körper des Mannes
und der Statue. Im ersten Augenblick erkannte sie nicht, wer von den beiden
am Leben, und wer aus Stein gemeißelt war – die Schatten bewegten sich,
das Licht brachte die Schichten der Nacht durcheinander und die ganze
Landschaft erstarrte bald unbeweglich, bald füllte sie sich mit Leben,
Licht und Gemurmel.
„Emilia, befreie mich ... Emilia ...“
Zunächst ähnelten die Körper zwei im Gras liegenden Figuren eines Mannes
und einer Frau, die in einer Liebesumarmung erstarrt waren; dann aber kam
das Mondlicht wieder, und die Statue richtete sich auf, der Körper des
Mannes rutschte zu ihren Füßen und umfaßte betend den Stein.
„Was für eine Freiheit will er?“ fragte die Schwester die Uralten. „Ist
sein Körper oder seine Seele gefesselt?“
„Die Seele“, lispelten sie, „befreie seine Seele!“
„Gut“, sagte da die Schwester, obwohl sie wußte, daß diese Bitte unerfüllbar war.
Sie ging dann zum Sandstrand und hielt erst vor der blauen Barriere des Meeres
an. Für sie war es keine Barriere mehr, sondern die Antwort des Geheimnisses.
„Mein Bruder“, sagte sie zum Meer, „hat unsere Blutsbande ignoriert und
wollte nur ein Mann sein: Um als Mann zu leiden und dadurch zu sterben. Du
hast einen Platz, den niemand verlassen kann. Öffne deine Tür und laß mich
durch!“
„Ist nicht der Körper nur ein Instrument, das jeder spielen kann?“, flüsterten
die Wellen schmeichelnd. „Und wozu braucht der Blinde Augen?“
„Laß mich durch“, bat die Schwester wieder und machte einen Schritt weiter.
„Wenn er wenigstens ein bißchen Glück hat...“
„Soll das Bewußtsein wach sein, falls es immer schlafen will ..., soll ...“
„Wenn er ein wenig Glück hat ...“ Die Schwester verwandelte ihre Worte in
Schritte, „... wird er vielleicht frei sein ... eine kurze Zeit... bevor ...
er mir wieder folgt ... DORTHIN ...“
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